Stellt dir vor, du bist mit deinem Chef bei einem potentiellen Kunden und dein Chef vermasselt es. Und jetzt stell dir vor, dass du anschließend deinem Chef eine Email sendet, in der du schreibst: „Lieber Chef, was Sie da heute produziert haben, das war totaler Mist. In der Schule wäre das eine 5 gewesen. So etwas darf bitte nicht noch einmal vorkommen!“
Frage 1: Würdest du das machen?
Frage 2: Was würde passieren?
Wer glaubt, diese Email sei nur ein Gedankenexperiment und nicht real … exakt das ist bei Bridgewater passiert, dem größten Hedgefonds-Anbieter der Welt. Die Email schickte der Mitarbeiter Jim Haskel seinem Chef Ray Dalio nach einem gemeinsamen Kundentermin. Und Jim fügte hinzu: „Sie waren überhaupt nicht vorbereitet, denn wenn Sie es gewesen wären, hätten Sie unmöglich so durcheinander sein können. In Zukunft würde ich Sie bitten, sich Zeit zu nehmen und sich vorzubereiten. Oder vielleicht sollte ich vorher sogar auf Sie zukommen und mit Ihnen reden, um Sie zu präparieren. Aber so etwas darf nicht noch einmal passieren!“
Eine 5 für den Chef
Kein Witz.
Mir ist völlig klar: In vielen Unternehmen würde der Absender so einer Mail ziemlich schnell und wenig freundlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt werden.
Bei Bridgewater läuft es anders: Anstatt seine Fehlleistung zu kaschieren, sie schönzureden oder den Absender der Email zu attackieren, meldete sich der kritisierte Chef bei den anderen Teilnehmern des Kundentermins, berichtete ihnen von Jims Kritik und bat sie um ihr ergänzendes Feedback bzw. um ihre Schulnote für seinen Auftritt beim Kunden. Er erhielt in der Tat auch von den anderen wenig schmeichelhafte Antworten, die die Kritik von Jim bestätigten.
Und was tat er jetzt? Er fasste die Rückmeldungen kurzerhand zusammen und leitete sie an alle Mitarbeitenden weiter. An alle! Damit sie davon lernen konnten, sich nicht so schlecht auf einen Kundentermin vorzubereiten, wie er es getan hatte.
Ich finde das absolut bemerkenswert. Mir geht es dabei aber weniger darum, ob Ray Dalio eine besonders coole Socke ist, sondern darum, wie ein solcher herausragend konstruktiver Umgang mit Kritik in einem Unternehmen überhaupt möglich ist. Also: Was ist da bei Bridgewater los, dass dort solche Emails verschickt werden?
Ohne Rücksicht auf Hierarchien
Du ahnst es schon: Bridgewater hat eine sehr eigene und sehr besondere Unternehmenskultur, in der es eine Pflicht zum Widerspruch gibt: „Obligation to dissent“
Es heißt nicht „Recht zum Widerspruch“, es heißt „Pflicht zum Widerspruch“.
Ray Dalio geht sogar so weit, dass er sagt: „Niemand in meinem Unternehmen hat das Recht, seine Kritik zurückzuhalten!“
Die Idee dahinter geht zurück auf Marvin Bower. Der war bei McKinsey von 1950 bis 1967 Managing Director. Er entwickelte das noch bis heute gültige Unternehmensleitbild des 1926 von James Oscar McKinsey gegründeten Beratungsunternehmens, in dem die „obligation to dissent“ verankert ist: „Für alle Beraterinnen und Berater gilt die Pflicht zum Widerspruch, die Obligation to Dissent: Konstruktive Kritik ist ausdrücklich erwünscht – ohne Rücksicht auf Hierarchien und Interessen.“
Neulich erlebte ich eine Anwendung genau dieser Idee in einem Meeting eines großen Mittelständlers, in dem es um die neue Führungsstrategie ging. Die Frage des Chefs, die er den Anwesenden stellte: „Welche Informationen deuten darauf hin, dass dies NICHT der richtige Weg ist?“
Insgeheim dachte ich: „Klar, eine rhetorische Frage. “
Aber von wegen! Es entstand eine lebhafte Diskussion mit ausgesprochen kritischen Wortmeldungen. Immer konstruktiv, aber ein Blatt vor den Mund nahm niemand. Frei nach dem Motto: Widerspruch ist kein Missstand, sondern nutzbares Potenzial.
Genau das ist der Punkt: Kritische Selberdenker in den eigenen Reihen sind extrem wichtig. Nicht weil sie sich immer mit ihrer Meinung durchsetzen, sondern weil sie die Aufmerksamkeit und das Denken stimulieren, in neue Bahnen lenken und so letztlich die Entscheidungsqualität erhöhen.
Wackeldackel haben im Unternehmen nichts zu suchen: Niemand kann für das Unternehmen wertvoll sein, der automatisch mit dem Kopf nickt, wenn ein Chef etwas sagt.
Die drei Voraussetzungen für gesunden Widerspruch
Aber ich weiß natürlich, dass quer durch die Unternehmenslandschaft gesehen nur wenige Menschen den Mut haben, anderer Meinung zu sein und dies offen gegenüber Vorgesetzten zu kommunizieren, weil nur wenige Vorgesetzte dies auch tatsächlich schätzen. Und wer in einem Umfeld, in dem es nicht willkommen ist, versucht, dem Chef zu widersprechen, ist tatsächlich schlecht beraten.
Damit das funktionieren kann, braucht es drei Voraussetzungen – und zwar in dieser Reihenfolge:
1. Die ausdrückliche Pflicht zum Widerspruch
Allen muss klar sein, dass die bestmöglichen Entscheidungen gesucht werden. Um sie zu finden, müssen auch kritische Meinungen auf den Tisch. Damit das passieren kann, gibt es nicht nur das Recht auf eine abweichende kritische Meinung, sondern die offiziell ausgesprochene Pflicht, sie zu äußern. Das ist nicht misszuverstehen als Einladung an alle Krawallmacher, Meinungspupser, Dauerdemonstrierer oder Ich-Bin-Aus-Prinzip-Dagegen-Typen, sondern an alle, die eine abweichende Meinung haben und diese auch mit stichhaltigen Argumenten darlegen können.
2. Chefs, die Widerspruch akzeptieren
Starke Mitarbeiter gibt es nur dort, wo es starke Führungskräfte gibt. Wo sich Duckmäuser tummeln, findet sich in den meisten Fällen ein autoritärer und innerlich schwacher Chef. Denn Führungskräfte sind nicht stark, wenn sie mit Widerspruch nicht umgehen können. Sie sind dann stark, wenn sie ein Umfeld schaffen, wo Menschen auch Kritisches sagen. Das kennzeichnet erwachsene Menschen und eine Kultur des Vertrauens.
3. Mitarbeiter mit Mumm
Eine solche Kultur braucht mündige Kollegen. Menschen, die erwachsen sind und so behandelt werden möchten – und die reflektieren, hinterfragen, eine eigene Meinung haben und es konsequenterweise auch aushalten können, wenn sie selbst mit ihrer Meinung hinterfragt werden.
Um das klarzustellen: Eine Pflicht zum Widerspruch ist weder einfach für Mitarbeiter noch für Chefs. Wer behauptet, überhaupt kein Problem damit zu haben, kritisiert zu werden oder in einer Argumentation zu unterliegen, der flunkert. Die Wahrheit ist: Es braucht schon die Resilienz, auf die Zähne zu beißen, das Krönchen zu richten und weiterzumachen. Aber es lohnt sich für alle Beteiligten!
Mit der Pflicht zum Widerspruch kommen die klügsten Köpfe zu den besten Entscheidungen. Die beste Idee zählt, egal wo sie herkommt – darauf kommt es an. Aber das geht nur in einer Erwachsenenkultur, wo alle Beteiligten gefestigt genug sind, auf Augenhöhe miteinander zu reden.
Bist du dafür bereit?