Was wir Stärke nennen – und was es uns kostet

„Setzen Sie sich zuerst Ihre eigene Sauerstoffmaske auf, bevor Sie anderen helfen.“

Ein Satz, den wir alle kennen. So vertraut, dass er längst zur akustischen Tapete geworden ist.
Er dudelt durch die Flugzeugkabine, während wir uns die In-Ears zurechtrücken und überlegen, ob Chicken oder Pasta das kleinere Übel ist.

Und dann – völlig unerwartet – höre ich ihn wieder.

Nicht über den Wolken. Sondern im Gespräch mit meiner Meditationslehrerin.

Ich hatte ihr von meinen vergangenen Monaten erzählt – Monaten voller Verantwortung, Entscheidungen, Fürsorge. Vor allem für andere. Für das, was dringlich war.

Ein Zustand, den viele Führungskräfte kennen: Du kümmerst dich zuerst um dein Team, um die Aufgaben, um alles, was funktionieren muss – und verlierst dabei dich selbst aus dem Blick.

Wenn du für alle da bist – außer für dich selbst

In diesem Gespräch sprach ich zum ersten Mal laut aus, was mich schon lange erschöpfte: Ein atemloser Dauerzustand des Kümmerns – zwischen familiären Sorgen und beruflichen Verantwortlichkeiten, ständiger Erreichbarkeit und endlos vielen Abwägungen.

Beide Eltern krank. Arztgespräche führen. Untersuchungen koordinieren. Anträge stellen. Formulare ausfüllen. Pflegeheim suchen. Wohnung auflösen. Entscheidungen treffen, die niemand treffen will.

Das Leben anderer zusammenhalten, während sich die eigenen Energiereserven langsam auflösen – nicht sofort spürbar, aber stetig.

„Jemand muss es ja tun“, sagte ich, überzeugt von meiner Verantwortung.
Sie sah mich ruhig an und entgegnete:
„Du musst dir zuerst die Sauerstoffmaske aufsetzen.“

Plötzlich hatte dieser Satz eine andere Frequenz.

Etwas in mir kam in Bewegung. Wie eine Tür, die sich öffnet und zum ersten Mal frische Luft hereinlässt – weil mit diesem einen Gedanken etwas in mir aufatmen durfte, das viel zu lange still war. Weil bisher andere Gedanken dominiert hatten. Solche, die auf frühen Erfahrungen mit Menschen in meinem Umfeld beruhten.

Stark sein – aber nach wessen Regeln?

Schon früh lernen wir, wofür es Applaus gibt:

Du wirst gelobt, wenn du stark bist und durchhältst.

Wenn du gibst, scheinst du besonders wertvoll zu sein.

Wenn du dich selbst hintenanstellst, bist du rücksichtsvoll.

Mit der Zeit glaubst du, dass die Welt so funktioniert. Du wirst ein Teil des Programms, das andere geschrieben haben.

Und dann bist du älter.

Bist Führungskraft, Partner oder Partnerin, Tochter, Sohn, Mutter oder Vater. Aber du funktionierst weiter nach dem alten Programm.

Vielleicht kennst du deine eigene Version davon.

Vielleicht bist du auch jemand, der reflexartig einspringt. Der Lücken schließt, noch bevor sie andere wahrnehmen.

Jemand, der anpackt und Probleme löst – und im Eifer des Handelns übersieht, was er selbst eigentlich braucht.

Fürsorge ohne Selbstverlust

Die Wende beginnt mit einer ehrlichen und zugleich tiefgreifenden Einsicht: Beziehungen gedeihen durch Fürsorge – nicht durch Selbstaufgabe.

Wer immer nur gibt, verliert irgendwann die Verbindung zu sich selbst.

Ja, Beziehungen – ob privat oder beruflich – leben von Zuwendung und Hilfsbereitschaft. Aber es gibt einen feinen und entscheidenden Unterschied zwischen Fürsorge und Selbstaufopferung.

Aufopferung entzieht. Sie leert – bis nur noch Erschöpfung, Reizbarkeit und innere Leere bleiben.

Fürsorge dagegen nährt. Sie ist geerdet, klar – und kommt aus einem vollen Kelch.

  • Du kannst für andere da sein – ohne dich selbst dabei aus dem Blick zu verlieren.
  • Du kannst ein guter Chef, eine gute Chefin sein – ohne dich selbst zu vernachlässigen, während du Verantwortung für andere trägst.
  • Du kannst dich um deine Eltern kümmern – ohne dein eigenes Leben monatelang auf Pause zu stellen.
  • Du kannst deine Kinder lieben – ohne in jeder Minute um sie zu kreisen.
  • Du kannst deinen Partner unterstützen – ohne seine Stimmungslage zu deiner Verantwortung zu machen.

Es geht nicht darum, weniger zu geben – sondern darum, gesunde Grenzen zu setzen und auch für dich selbst zu sorgen, während du gibst.

Selbstfürsorge ist Teil von Führung

Selbstfürsorge ist kein Luxus – sie ist ein Bestandteil von Selbstführung.

Und damit essenziell für alle, die Verantwortung tragen: für Menschen, für Aufgaben, für Projekte – oder für ein ganzes Leben.

Heute nehme ich mir regelmäßig Auszeiten. Nicht irgendwann. Nicht „wenn alles erledigt ist“. Sondern jetzt.

Ich plane pro Monat mindestens drei, manchmal auch vier oder fünf Tage, die nur mir gehören – zum Auftanken, Durchatmen, Sein.
Ich fahre auf Yoga- oder Meditationsretreats oder an Orte mit weiter Natur – Berge, Wasser, Weite – die mich wieder bei mir ankommen lassen.

Dort lasse ich mich ganz bewusst auf mich selbst ein. Ich bewege mich. Schweige. Schreibe. Höre. Bin.

Was ich dabei erkannt habe: Die Pausen machen mich klarer, fokussierter, präsenter.

Natürlich gibt es Momente, in denen mein altes Programm anspringt. Dann flüstert eine Stimme: „Du müsstest doch …“ oder: „Ist das nicht zu egoistisch?“ Aber ich habe gelernt, den Unterschied zu spüren.

Grenzen setzen ist Führung

Der Schmerz, den du fühlst, wenn du zum ersten Mal gesunde Grenzen setzt – das ist nicht deine Intuition.

Das ist deine Konditionierung.

Wenn du dich auf den Weg machst, gesunde Grenzen zu setzen, wenn du spürst, dass deine Selbstführung genauso wichtig ist wie das, was du für andere tust – dann geh weiter.

Das Unbehagen ist kein Fehler.

Es ist ein Zeichen.

Es zeigt dir, dass du nicht mehr auf Autopilot unterwegs bist.

Selbstfürsorge ist kein Egoismus. Sondern eine Notwendigkeit.

Mit ihr bist du fähig, wirklich zu handeln – klar, präsent und mit allem, was du brauchst, um sowohl andere zu leiten als auch die Herausforderungen des Lebens zu meistern, sei es im beruflichen Kontext oder im persönlichen Umfeld.

Du bist nicht länger Teil eines Programms, das andere für dich geschrieben haben.

Du schreibst jetzt dein eigenes Programm.

Und du atmest wieder.

 

 

 

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