Das Abilene Paradoxon: Wie offener Widerspruch bessere Entscheidungen fördert

„Hast du Lust, am Freitagabend ins Kino zu gehen?“

Die Nachricht meiner Freundin blinkt auf meinem Handy auf. Kino? Super Idee! Ich liebe es, Filme auf der großen Leinwand zu sehen. Außerdem habe ich Eva schon viel zu lange nicht mehr gesehen. Das passt perfekt! Ohne lange zu überlegen, tippe ich eine schnelle Zusage ein. Freitag steht!

Am nächsten Tag schaue ich mir den Trailer des Films an, den Eva vorgeschlagen hat. Ein Biopic über eine berühmte österreichische Malerin. Hm, irgendwie packt mich das nicht. Ist das wirklich ein Film, den ich sehen will?

Ein Gedanke schleicht sich ein: Vielleicht sollte ich absagen. Oder zumindest einen anderen Film vorschlagen?

Das fühlt sich nicht richtig an. Ich will keine Spielverderberin sein. Also halte ich meine Bedenken zurück. Am Freitag sitzen wir im Kino. Der Saal verdunkelt sich, der Film beginnt. In den ersten Minuten ahne ich bereits: Das hier wird nichts für mich. Der Film springt wild zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her. Und die Hauptdarstellerin? Sie bleibt dieselbe – egal ob sie Anfang 20, Mitte 60 oder über 90 ist. Das soll die zeitlose Seele der Künstlerin symbolisieren, aber ich bin einfach nur verwirrt. Ich ertappe mich dabei, wie ich auf die Uhr schaue, während ich innerlich abdrifte.

„Ehrlich gesagt, hätte ich den Film sofort abgesagt, nachdem ich den Trailer gesehen habe“, platzt es aus mir heraus, als wir später bei einem Glas Wein zusammensitzen. Zu meiner Überraschung nickt Eva. „Mir ging’s genauso! Ich habe nur nichts gesagt, weil ich dachte, du wolltest ihn gern sehen.“

Wir schauen uns verblüfft an. Verrückt!

Keine von uns wollte den Film wirklich sehen, aber aus lauter Rücksicht haben wir beide den Mund gehalten.

Programmierter Konsens durch Schweigen

Ein klassischer Fall des Abilene Paradoxons: Gemeint ist damit eine Gruppendynamik, die dazu führt, dass Entscheidungen getroffen werden, die niemand wirklich will. Der Management-Professor Jerry B. Harvey, der diesen Begriff geprägt hat, verdeutlicht dies mit einer Geschichte, in der eine Familie widerwillig nach Abilene fährt – jeder dachte, die anderen wollten es.

Diese Paradoxie ist auch in vielen Unternehmen anzutreffen. Das Ergebnis: programmierter Konsens durch Schweigen.

Du hast das vielleicht auch schon erlebt: Im Meeting wird eine Idee präsentiert, die schlecht durchdacht ist oder die im Hauruck-Verfahren umgesetzt werden soll, wobei allen klar ist, dass das nicht ohne entsprechende Vorbereitung funktionieren wird. Dann wird diese Idee zur Abstimmung gestellt und alle denken insgeheim: „Auweia! Wir sollten die Finger davonlassen.“ Aber niemand möchte derjenige sein, der das laut ausspricht. Das Ergebnis: Die Idee wird durchgewunken und kommt ins Rollen. Nachdem die Entscheidung gefallen ist, steigt der Druck auf alle, die Entscheidung zu vertreten. Das ist dann der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt …

Wenn es um Entscheidungen von Tragweite geht, ist Mut zu klugem Dissens ein extrem wichtiges Korrektiv. Das funktioniert jedoch nur, wenn die Bereitschaft zum „Speaking up“ vorhanden ist. Und wenn unterschiedliche Sichtweisen nicht als lästige Störung, sondern als wertvoller Beitrag zur Verbesserung der Entscheidungsqualität verstanden werden.

Um es ganz deutlich zu sagen: Gegenteilige Positionen sind ein notwendiger und gesunder Teil des Miteinanders in Teams, in Unternehmen und übrigens auch in Partnerschaften. Tatsächlich ist deren Fehlen ein Warnzeichen: Wenn sich alle immer einig sind, wartet der Tod der Organisation. Einigkeit macht starr.

Was tun?

Drei Anregungen, um Dissens und Heterogenität der Meinungen in der Entscheidungsfindung deutlich zu verbessern:

Psychologische Sicherheit stärken: Damit ist ein Umfeld gemeint, in dem abweichende Meinungen willkommen sind. Führungskräfte sind dabei Weichensteller. Wie? Indem sie klare Signale setzen, dass konstruktive Kritik und abweichende Ideen geschätzt werden, ohne dass negative Konsequenzen befürchtet werden müssen. Keine einfache Sache, denn es setzt die Bereitschaft voraus, das auch auszuhalten. Das kann manchmal ganz schön anstrengend sein. Aber: Kluge Führungskräfte wissen, dass sie Leute in den eigenen Reihen brauchen, die sich auch mal gegen den Wind stellen.

„Speaking up“ aktiv einfordern: Klingt vernünftig, steht aber in vielen Organisationen quer zur üblichen Logik. Man möchte nichts von anderen Sichtweisen hören. Wer Karriere machen will, sollte auf dem Weg nach oben möglichst wenig Menschen irritieren. „Shutting up“ als Beförderungs-Turbo. Das mag auf den planbaren Märkten der Vergangenheit funktioniert haben, aber heute gilt: lieber frühzeitig und offen aufdecken, was über kurz oder lang ohnehin ans Tageslicht kommen wird. Eine effektive Methode ist, gezielt abweichende Meinungen einzufordern: „Gibt es jemand, der das anders sieht?“ oder „Was deutet darauf hin, dass dies nicht der richtige Weg ist?“ sind zwei öffnende Fragen, die diesem Zweck dienen. Das funktioniert aber nur, wenn Widerspruch nicht als Missstand, sondern nutzbares Potenzial gesehen wird.

Den Wert des konstruktiven Dissens richtig einordnen: Der Wert des konstruktiven Dissens liegt nicht darin, dass diejenigen, die ihre Hand heben und eine gegenteilige Sichtweise vorbringen, immer recht haben. Selbstverständlich kommt es vor, dass er oder sie daneben liegen kann. Aber selbst wenn so ist, bewirkt es dennoch zwei wichtige Effekte: Erstens, die blinde Gefolgschaft der Mehrheit wird gebrochen. Und zweitens: Kluger Dissens fordert uns auf: Bitte nochmals nachdenken! Bitte noch mehr Informationen suchen und mehr Alternativen in Betracht ziehen!

Kluger Dissens ist produktiv im besten Sinne: Er ist das, was der Regen für den Garten ist – das Lebenselixier einer agilen, zukunftsfähigen Gemeinschaft.

Deshalb: Wertschätzt die Konsensverweigerer in euren Teams! Hört ihnen zu! Sie erfüllen eine unerlässliche Rolle: Indem sie offen widersprechen und ihre Sichtweisen einbringen, öffnen sie den Blick für Alternativen. Um es ganz deutlich zu sagen: Es ist ihre Verantwortung, Entscheidungen oder Richtungen, die sie für falsch halten, klar und deutlich anzusprechen – und zwar vor der Entscheidung, nicht danach! Nachträglicher Widerspruch ist nicht Kritik, sondern Sabotage. Das offene Ringen um verschiedene Ansichten stärkt die Organisation. Schweigender Konsens hingegen führt sie ins Abseits.

Die entscheidende Frage ist daher nicht, ob wir unterschiedliche oder sogar konträre Sichtweisen oder Meinungen haben, sondern wie wir mit ihnen umgehen. Treffen wir die Wahl für klugen Dissens, eröffnet sich die Chance, Entwicklungen voranzutreiben und klügere Entscheidungen zu treffen – sei es im Unternehmen, im Alltag oder bei der Wahl des nächsten Kinofilms.

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