“Move fast, break things!” –
Nicht nur in der Start-up-Szene, sondern bei allen Unternehmen, die den Anspruch haben, modern, agil und innovativ zu sein, macht dieser Satz die Runde. Gesucht: Menschen, die schnell und kreativ sind und über den Rahmen des Üblichen hinausdenken. Damit Menschen so arbeiten können, brauchen Unternehmen die dazu passende Unternehmenskultur. So weit, so simpel.
In manchen Organisationen funktioniert das. In vielen anderen bleibt es aber nur beim rhetorischen Aufbruch.
Warum?
Die tight loose Regel hilft!
Streng oder locker?
Es gibt ein ziemlich einfaches Prinzip, das diese Frage klärt: Unternehmen (und auch alle anderen sozialen Systeme) variieren darin, wie streng sich die Individuen an soziale Normen halten. Soziale Normen sind meist ungeschriebene anerkannte Verhaltensmuster, Regeln, Gebote und Verbote, die sich in den normativen Erwartungen anderer Personen ausdrücken.
Das ist immer und bei jeder Gruppe so. Auf diese Weise funktioniert die Zusammenarbeit von Menschen in Teams und Organisationen oder das Zusammenleben in Familien oder in der Gesellschaft.
Schon Kinder lernen beispielsweise, dass man niemandem etwas wegnimmt oder dass man beim Essen nicht mit offenem Mund kaut. Wie viele implizite und explizite Regeln es gibt und wie stark die Einhaltung kontrolliert bzw. sanktioniert wird, ist jedoch sehr variabel. Die Bandbreite reicht von sehr strengen bis zu extrem lockeren Gruppen und Gesellschaften.
Soziale Normen: tight and loose cultures
Warum es eine so große Bandbreite im sozialen Miteinander bzw. bei den sozialen Normen gibt, beschäftigt die US-Psychologin Michele Gelfand seit Jahren. Sie hat über ihre Forschungsergebnisse ein wirklich lesenswertes Buch veröffentlicht: Rule Makers, Rule Breakers: How Tight and Loose Cultures Wire Our World.
Gelfand unterscheidet zwischen „tight cultures“ und „loose cultures“, also zwischen normativ strengen und normativ toleranten Unternehmenskulturen. Organisationen mit einer strengen Unternehmenskultur haben strikte Regeln, und diejenigen, die sich nicht daran halten, müssen mit Konsequenzen rechnen. Organisationen mit einer toleranten Unternehmenskultur haben weniger Regeln und sind gegenüber Regelübertretungen nachgiebiger.
Tight cultures
Der Punkt ist: Der Grad der Strenge wird nicht willkürlich von irgendjemandem konstruiert, er entsteht auch nicht zufällig, sondern er hat etwas mit der Aufgabe zu tun, die die Organisation erfüllt. Im wirtschaftlichen Kontext heißt das, dass in Branchen, die sehr reguliert sind und in denen eine hohe Effizienz und möglichst perfekte Koordination erforderlich sind, ein hohes Maß an Strenge herrscht. Zum Beispiel Krankenhäuser, Fluggesellschaften, Polizeidienststellen. Gleiches gilt für Berufsfelder, die sehr stark auf die Einhaltung und Umsetzung von Gesetzen und Vorschriften fokussieren: Beispielsweise Rechtsberatung, Wirtschaftsprüfung und der öffentliche Dienst, die an hohe Standards der Rechenschaftspflicht gebunden sind.
Loose cultures
Normativ tolerante Organisationen zeichnen sich hingegen durch hochgradig informelle und flexible Arbeitsweisen aus. Hier gilt es, nicht die Freiräume einzuschränken, sondern sie zu erweitern und zu nutzen. Beispiele sind Designfirmen, Werbeagenturen oder High-Tech-Firmen, wo es entscheidend ist, schnell auf Veränderungen zu reagieren, querzudenken, Spielräume zu nutzen und Innovationen voranzutreiben.
Das funktioniert in beiden Welten sehr zweckdienlich. Culture follows function. Problematisch allerdings wird es im Übergang dazwischen …
Der Weg zu einer toleranteren Unternehmenskultur
Viele Unternehmen, die aus einer normativ strengen Kultur heraus entstanden und gewachsen sind, versuchen heute, sich mehr in Richtung einer toleranteren Kultur zu entwickeln. Also weg von Disziplin, Regelhaftigkeit, buchstabengetreuer Umsetzung und Null-Toleranz gegenüber Abweichungen, hin zu mehr flexiblem und kreativem Denken, Gestaltungs- und Innovationslust und der Nutzung von Freiräumen.
Das Bestreben ist nachvollziehbar: Wenn es der Markt verlangt, neue Ideen zu entwickeln, dürfen sich die Mitarbeiter nicht benehmen wie Denkbürokraten.
Wer Neues will, darf nicht am Alten festklammern, ganz einfach.
Also wird versucht, dem Unternehmen eine tolerante Kultur zu verpassen, indem auch Abweichungen von der Regelhaftigkeit toleriert werden sollen, um den notwendigen Raum für Kreativität und Innovation zu schaffen. Leider aber kann man die normativ tolerantere Kultur nicht per Anweisung und Kontrolle durchsetzen – und genau das mussten schon viele Führungskräfte schmerzhaft erfahren.
Ein schmerzhaftes Beispiel
Ich habe das bei einem mittelständischen Produktionsunternehmen in Süddeutschland erlebt: Jahrelang hatte die Führungscrew ein strenges Regiment geführt. Die Mitarbeiterbefragung förderte aber zutage, dass die Mitarbeiter sehr unzufrieden waren, insbesondere wurde das Prinzip der „Führung an der kurzen Leine“ verbunden mit den vielen hausinternen Vorschriften, Regeln und dem „Formularwahnsinn“ kritisiert. Über die Hälfte der Mitarbeiter war mit ihren Führungskräften unzufrieden. Die Folge: Die Mitarbeiter machten Dienst nach Vorschrift und unterließen es, sich mit Ideen und Engagement in das betriebliche Miteinander einzubringen.
Bei ihrem ersten Versuch der Kulturveränderung wählte die Unternehmensführung ein völlig entgegengesetztes System, das den Mitarbeitern sehr viel Freiheit ließ. Der Hebel wurde also komplett in „die andere Richtung“ umgelegt. Das kam nicht gut an. Die Mitarbeiter waren so viel Abwesenheit von verbindlichen Regeln und Strukturen nicht gewohnt – ein Gefühl der Unsicherheit machte sich breit, gepaart mit Frust und Orientierungslosigkeit.
Eine Unternehmenskultur der flexiblen Festigkeit
Was also tun? Es braucht einen Zwischenschritt. Eine Kultur der „flexiblen Festigkeit“ könnte man das nennen. Also eine straffe Unternehmenskultur, die nach und nach mit Lockerheit, mit Freiräumen, mit Flexibilität angereichert wird.
Auf einen Schlag den Hebel komplett umlegen, das funktioniert eben nicht. Das ist auch kein Wunder, denn wenn die äußeren Strukturen, also die verbindlichen Regeln, Vorschriften und Normen heruntergefahren werden, müssen die Menschen Strukturen in ihrem Inneren aufbauen. Das heißt: Je weniger Struktur im Außen, desto mehr Struktur brauchen die Menschen im Inneren. Und das benötigt Zeit, Befähigung und die richtigen Rahmenbedingungen.
Weniger Sicherheit im Außen braucht mehr Sicherheit im Inneren
Das war die Situation, die bei dem mittelständischen Produktionsunternehmen live und in Farbe zu besichtigen war: Jahrzehntelang waren diese inneren Kompetenzen weder erforderlich noch von der Führung kultiviert worden – und nun waren ebendiese Kompetenzen plötzlich gefordert, weil die Führung den Hebel komplett umgelegt hatte. Wo sollen die inneren Strukturen aber herkommen? Natürlich führt das bei den Mitarbeitern zum Gefühl der individuellen Überforderung, zu Verunsicherung, Angst und Frust.
Es ist eben ein Prozess: Wenn die Sicherheit gebenden Normen im Außen reduziert werden, müssen sich gleichzeitig die stabilisierenden Normen im Inneren der Menschen entwickeln. Struktur im Außen abbauen funktioniert nur, wenn Struktur im Inneren aufgebaut wird.
Tight loose Kultur in der Praxis
Um es konkret zu machen: In einer normativ strengen Unternehmenskultur mit festen Arbeits- und Urlaubszeiten werden die Mitarbeiter mit Vorschriften und Kontrollen davor geschützt, zu viel zu arbeiten: Zeiterfassung, Urlaubsanträge und -genehmigungen sind hier völlig normal. Wenn jetzt auf eine tolerantere Unternehmenskultur umgeschaltet wird, heißt das, dass die Verantwortung nicht zu viel zu arbeiten und ausreichend Zeit zur Regeneration einzuplanen plötzlich beim Einzelnen liegt. Der Mitarbeiter muss also selbst lernen, auf seine Arbeitszeit zu achten und auch Grenzen zu ziehen. In solchen Unternehmenskulturen gibt es keine Zeiterfassung, und wenn, dann nur pro forma, weil der Gesetzgeber es eben vorschreibt. In solchen Kulturen gibt es auch keine Urlaubsantrags- und -genehmigungsprozesse.
Warum sollte ein „Vorgesetzter“ auch etwas kontrollieren und genehmigen, was die Mitarbeiter im Team viel schneller und flexibler unter sich ausmachen können?
In einer normativ strengen Unternehmenskultur ist es üblich, dass du zum Chef gehst, der sich um die Arbeitseinsatzplanung kümmert und dich dort beschwerst, dass du so viele Überstunden machen musst. In der normativ toleranten Kultur liegt die Verantwortung bei dir selbst, das mit deinen Kollegen zu klären.
Das heißt aber auch: In einer toleranten Kultur brauchst du die ganzen Selbstfähigkeiten: Ohne Selbstverantwortung, Selbstdisziplin und Selbstkontrolle geht es nicht.
Tight loose Kultur in Familien
Das gilt auch für Familien: In einer strengen Kultur, also bei autoritärer Erziehung im traditionellen Stil lernen Kinder zu gehorchen und Anweisungen korrekt auszuführen. Sie lernen zu funktionieren, diszipliniert und zuverlässig zu sein. In einer toleranten Kultur mit einem weniger autoritären Erziehungsstil lernen die Kinder (hoffentlich) die heute immer wichtiger werdenden Selbstfähigkeiten. Aber auch hier ist auffällig, dass die extremen Enden auf der Skala Schwierigkeiten erzeugen: Zu streng erzogene Kinder haben in unserer Gesellschaft genauso Probleme wie zu sehr nach Laissez-faire erzogene Kinder. Und es gibt keinen Schalter, den man später einfach umlegen kann, um die fehlende Disziplin und Zuverlässigkeit bei den einen und die fehlenden Selbstfähigkeiten bei den anderen einfach anzuknipsen. Es braucht Jahre und einen starken Willen dafür, diese nachträglich zu entwickeln.
Was schlägst du vor?
Es ist also ganz natürlich und erwartbar, dass Mitarbeiter in einer Organisation, die sich im Übergangsprozess befindet, immer wieder in die Verhaltensmuster der strengen Unternehmenskultur zurückfallen und den Chef bitten, dieses oder jenes festzulegen, zu klären oder wie auch immer eine Lösung „von oben“ zu liefern.
Entscheidend ist dann, wie du als Führungskräfte reagierst. Lieferst du wie bestellt eine Lösung? Dann hast du zwar das Problem gemanagt, aber gleichzeitig die alte Unternehmenskultur zementiert und den Wandel erschwert.
Wer die neue, tolerante Kultur verstärken will, bei dem sind in einem solchen Moment weniger die Managementqualitäten, sondern eher die Führungsqualitäten gefragt. Beispielsweise könntest du den Ball an den Mitarbeiter zurückspielen: „Was ist dein Vorschlag?“ bzw. „Probiere es und finde es selbst heraus!“