Unternehmenskultur im 21. Jhdt.

Eine der populärsten Präsentationen, die je auf Slideshare veröffentlicht wurden, heißt „Culture Deck“ und stammt vom Streaming-Dienst Netflix. Über 18 Millionen Views und mehr als 800 Kommentare haben die Folien bis dato gesammelt. Der größte Ritterschlag kam von Facebook-COO Sheryl Sandberg, die in einem Interview sagte, dass das „Culture Deck“ zu den wichtigsten Dokumenten zähle, die das Silicon Valley hervorgebracht habe.

Um was geht’s in dieser Präsentation? Eigentlich ist das eine simple Angelegenheit: Patty McCord, ehemals Chief Talent Officer bei Netflix, und Reed Hastings, der Gründer des Unternehmens, haben darin gemeinsam aufgeschrieben, wofür Netflix stehen soll und was von den Mitarbeitern erwartet wird. Das Culture Deck ist eine Art Führungsbibel.

Was ist daran so besonders? Nun, ich habe den Text gelesen und verstehe jetzt, warum er so wichtig ist …

Wie man einen Talentmagneten baut

Um Missverständnissen vorzubeugen: Nein, ich bin nicht der Meinung, dass dieser Text einen Hype benötigt und ich werde ihn darum hier nicht hochjubeln. Und nein, das Culture Deck taugt nicht als Blaupause für jede Organisation. Es ist vielmehr eine Einladung zur Reflexion und inhaltlichen Auseinandersetzung für jeden, der in einer innovationsfreudigen Organisation arbeiten möchte, wo Erwachsene wie Erwachsene behandelt werden.

Interessant finde ich vor allem den im Text beschriebenen Anspruch, den Netflix an sich selbst stellt: Es war vom Gründungstag an der Anspruch von Hastings und McCord, ein völlig anderes Unternehmen aufzubauen. Anders insofern, als das Ziel des Unternehmens ist, das Verantwortungsbewusstsein der Mitarbeitenden zu entfesseln.

Das Ergebnis sind ziemlich unkonventionelle Maßnahmen wie beispielsweise diese: Jeder  kann so viele Urlaubstage nehmen, wie er möchte. Es gibt keinerlei Mitarbeiterbewertungen. Und die Spesenpolitik erschöpft sich in sechs Wörtern: „Handle im bestem Interesse von Netflix.“

Allerdings ist Netflix kein Laissez-Faire-Umfeld, in dem jeder macht, worauf er gerade Lust hat. Ganz im Gegenteil: Es geht bei Netflix darum, ein Unternehmen aufzubauen, in dem nur „erwachsene Personen“ gedeihen könnten. Im Ergebnis ist eine außergewöhnliche Unternehmenskultur entstanden, die ein Magnet für Top-Talente ist.

Drei Aspekte sind im Culture Deck enthalten, von denen ich überzeugt bin, dass es sich für jeden lohnt, diese näher anzuschauen.

1. Hinterfrage alles!

Viele Dinge „macht man so“, einfach weil es allgemein verbreitet und akzeptiert ist. Solche Routinen gibt es in jedem Unternehmen. Nur: Gleichzeitig wandelt sich die Welt radikal. Und in einer solchen Welt sind die Macht-man-so-Routinen brandgefährlich. Je mehr wir uns als Individuen und als Teams davon gefangen nehmen lassen, umso mehr forcieren wir blindes Gruppendenken und einen gefährlichen Tunnelblick – unabhängig davon, was da draußen möglicherweise wirklich wichtig ist.

Und klar ist auch: Die Zukunft ist nicht einfach ein Mehr an Vergangenheit, sondern sie ist völlig anders als die Vergangenheit. Die große Gefahr liegt darin, das, was sich verändert, durch die Brille der althergebrachten Routinen und scheinbar unumstößlichen Branchengesetzmäßigkeiten zu betrachten. Die Herausforderung besteht also darin, die eigenen Denkkonstrukte aufzubrechen und Routinen kritisch zu hinterfragen.

Patty McCord hat sich in ihrer Zeit bei Netflix jeden Tag aufs Neue diese eine extrem clevere Frage gestellt, mit der sie bestehende Routinen hinterfragte und all das als Müll beseitigte, was nicht länger gültig war: „Was ist der Zweck dieser Aktivität?“ – Im Ergebnis hat dieses Hinterfragen zu radikalen Entrümpelungsaktionen von lästigen und irrelevanten Richtlinien, Genehmigungen und Verfahren geführt. Zum Beispiel wurden bei Netflix die Vorgaben für die maximale Anzahl der Urlaubstage aufgehoben, die Vergütung transparenter gemacht und die Art und Weise, wie innerhalb des Unternehmens Feedback gegeben wird, komplett überarbeitet.

Ich kann gar nicht oft genug betonen, wie wichtig dieses konsequente Entrümpeln ist und wie selten es in der Praxis gemacht wird. Eine vor Jahren getroffene Wahl wird so gut wie nie in Frage gestellt – es sein denn, die Krise ist da. Wie aber können wir radikal neu denken und uns weiterentwickeln, wenn der Großteil unseres Denkens an alten Gewissheiten festklebt?

Netflix Unternehmenskultur

 

Und das bringt mich zum zweiten Punkt:

2. Experimente! Experimente! Experimente!

Das radikale Hinterfragen von alten Überzeugungen, das rigorose Verschlanken oder sogar das totale Ausradieren überflüssiger Regeln und nervender Vorschriften, die Mitarbeiter daran hindern, die PS auf die Straße zu bekommen, geht Hand in Hand mit einem weiteren wichtigen Punkt: Dem mutigen Ausprobieren. Das bedeutet, dass die Grundhaltung des Experimentierens selbstverständlich werden muss. McCord beschreibt es so: „Neues ausprobieren, Fehler machen, von vorne anfangen, dann gute Ergebnisse sehen und an dieser Stelle weiter ausprobieren, Fehler machen, von vorne anfangen, und so weiter …“

Dabei geht es aber nicht nur darum Neues und Zusätzliches auszuprobieren.  Viele Neuerungen bei Netflix sind entstanden, indem Mitarbeiter Dinge weggelassen oder aufgehört haben, bestimmte Dinge zu tun, die keine Rolle mehr spielen oder verzichtbar sind. Das kann auch mal nur ein einziges einfaches Formular sein, das künftig keiner mehr ausfüllen muss. Einfach mal ausprobieren, ob es auch ohne geht … Also beileibe nicht nur die pressetauglichen, spektakulären Sachen.

3. Besser die Besten für kurze Zeit als die Mittelmäßigen für immer

Ein weiterer Punkt ist mir bei Netflix aufgefallen: Mitarbeiterbindung bedeutet bei Netflix nicht, Mitarbeitern mit Geld oder Unternehmensbeteiligungen goldene Fesseln anzulegen, damit sie entgegen ihrem unsteten Wesen möglichst lange in der Firma gehalten werden. Netflix will auch nicht mit honigsüßen Nettigkeiten und unter Einsatz von Feelgood-Managern dafür sorgen, dass die Mitarbeiter quasi kleben bleiben.

„Als Mitarbeiter solltest du nicht bleiben, wenn du unglücklich bist. Und als Unternehmen solltest du keine unglücklichen Menschen von der Weiterreise abhalten“, sagt Patty McCord.

Das bedeutet aber keineswegs, gleichgültig oder beleidigt mit den Schultern zu zucken, wenn Talente sich entscheiden, weiterzuziehen. Mitarbeiter sind freie Menschen und das Unternehmen muss das akzeptieren, ja, begrüßen. Unternehmen müssen respektieren, dass sich Menschen neue Ziele im Leben setzen und deshalb gehen wollen. Nichts ist damit gewonnen, wenn jemand bleibt, der sich eigentlich trennen will. Hinzu kommt: Dynamische Unternehmen brauchen stetige Blutauffrischung.

Bei Netflix gilt deshalb die Grundhaltung, dass es kein Weltuntergang ist, wenn gute Leute gehen. Denn das hat auch positive Auswirkungen! Nach innen: Die Plätze werden frei und bieten Chancen für ambitionierte Nachwuchsleute im eigenen Haus. Nach außen: Das Unternehmen baut sich eine gute Reputation auf. Die Top-Leute, die begleitet von Schulterklopfen und Anerkennung durch ihre Ex-Kollegen und -Chefs weiterziehen, reden anerkennend über ihren alte Firma und vielen Interessenten wird klar: Wenn du dich weiterentwickeln willst, ist das genau der Ort, wo du hin musst.

So ist das bei Netflix. Dort beherrscht man die Kunst des Abschieds. Es klingt paradox, aber um die hochkarätige Talentdichte aufrechtzuerhalten muss eine Organisation gut darin sein, sich regelmäßig von guten Leuten zu verabschieden, damit andere gute Leute nachrücken können.

 

Ich finde solche Unternehmensbeispiele deshalb wertvoll, weil sie inspirieren und uns auffordern, nachzudenken. In diesem Fall sind es diese drei Aspekte, die ich dir ans Herz legen will:

  1. Hinterfragen
  2. Ausprobieren
  3. Abschiedskultur

Netflix macht es in diesen drei Feldern so wie im Culture Deck beschrieben.

Aber wie wirst du es künftig in deiner Organisation machen?

Denk darüber nach.