Führungskraft - Führungsstärke - Schneeballeffekt

Veränderungen mit dem Schneeballeffekt

Stell dir vor, du bist Geschäftsführer und sitzt mit deinem Führungsteam zusammen. Vor jedem Teilnehmer der Runde liegt eine Mappe mit der Aufschrift „Feedback“. Darin findet sich das Ergebnis des Führungskräfte-Feedbacks, das für alle Führungskräfte und auch dich erhoben wurde. Jeder findet in seiner Mappe die Rückmeldung seiner Mitarbeiter/innen zu Themen wie Führungsstil, Kommunikationsfähigkeiten, Einfluss auf das Team und vieles mehr.

Die einzelnen Punkte sind dargestellt im Ampelsystem: rot, gelb und grün. Als du deine Mappe aufschlägst, hoffst und erwartest du, ein Meer von grün zu sehen. Aber als du die Seiten überfliegst, fragst du dich, ob es ein Problem mit dem Drucker und den Farbkartuschen gibt … alles rot und gelb! Du hast zehn Minuten Zeit, das zu verdauen, dann hörst du jemanden sagen: „Wer macht denn den Anfang und teilt seine Ergebnisse?“

Aber natürlich ist das nur eine rhetorische Frage, denn du kennst die Antwort: Als Primus inter pares musst DU beginnen …

Hut ab!

Dieser Alptraum jeder Führungskraft wurde wahr für Clynton Bartholomeusz, dem General Manager für Australien und Neuseeland beim deutschen Konsumgüterkonzern Beiersdorf.

Eigentlich war er von der Passivität seiner Leute ermüdet. Er hatte das Gefühl, dass kaum jemand Initiative übernahm, alle auf ihn schauten und sich vor schweren oder unangenehmen Entscheidungen drückten. Er war unzufrieden, ihm fehlte der Schwung im Laden.

Das knallharte Feedback, das er von seinem Team erhielt, zeigte ihm jedoch, dass er mit seinem eigenen Führungsverhalten für diese Situation in großem Umfang mitverantwortlich war.

Nun hätte er die Macht gehabt, dieses unangenehme Feedback einfach zu ignorieren. Oder er hätte das Feedback unter Verschluss halten und ganz im Stillen an sich und seinem Führungsverhalten arbeiten können. Niemand verlangte von ihm, sich bloßzustellen.

Clynton wählte aber einen anderen Weg: Vor seinen sechzig Topmanagern ging er in die Offensive, stellte die ihm rückgemeldeten Schwächen und Versäumnisse vor, übte radikale Selbstkritik und erklärte dann seine Ziele. Das waren zum einen persönliche Ziele, also die Verbesserung seiner Führungsqualitäten. Zum anderen aber auch seine Ziele für die Organisation. Er gab ein klares Commitment vor seinem Führungsteam zu seinen Zielen. Außerdem gab er offen zu, dass er nicht alle Antworten hatte, also nicht genau wusste, wie er die Ziele erreichen will. Darum bat er sein Team ausdrücklich um Unterstützung.

Führungsstärke!

Diese Offenheit und diese Größe beeindrucken mich. DAS nenne ich Führungsstärke!

Der Effekt: Durch seine Offenheit und die gleichzeitige Bitte um Unterstützung setzte er einen Standard für das gesamte Führungsteam. Viele seiner Manager entschieden sich dafür, ihr Feedback auch mit ihren Mitarbeitern zu teilen und ein ähnliches Commitment für ihre eigene Veränderung abzugeben. Und so ging es in der nächsten Führungsebene weiter. Je mehr diesem Vorgehen folgten, desto stärker wurde die Dynamik und es entstand eine Art Schneeballeffekt. Im Ergebnis führte das zu einer deutlichen Verbesserung der Unternehmenskultur, zu mehr Initiative, zu mehr Engagement und auch die Innovationen nahmen spürbar zu. Wirtschaftlich war eine deutliche positive Veränderung messbar. (Quelle)

Drei Punkte

Diese Vorgehensweise, dieses Anstoßen eines Schneeballeffekts ist extrem wirksam. Wenn du Führungskraft bist oder ein Team leitest und mit der Kultur und den Ergebnissen unzufrieden bist, solltest du dir das genauer anzuschauen. Und auch wenn du keine Führungskraft bist und auch kein Team leitest, kannst du über die folgenden drei Punkte mit deinem Chef oder deiner Chefin reden.

1. Der Start ist oben!

Das Bild des Schneeballs macht es ja klar: Der Ball rollt nicht von unten nach oben den Berg hoch. Derjenige, der ganz oben auf dem Berg sitzt, sollte den ersten Schritt machen, sich selbst zur Veränderung verpflichten, den Ball ins Rollen bringen.

Allerdings ist diese Aussage kein Ruhekissen für alle anderen, die jetzt mit dem Finger auf die obersten Chefs zeigen und sagen „dann sollen die mal anfangen …!“ Nein, denn für dein Team (selbst wenn es nur eine Person ist), bist du „die da oben“. Darum kannst und solltest du mit gutem Beispiel vorangehen.

2. Leg die Messlatte hoch!

Clynton Bartholomeusz sagte: „Du legst deine eigene Messlatte hoch und sagst den Menschen, die an dich berichten, was für eine Führungskraft du zukünftig sein möchtest.“ – Das ist kein Blabla, sondern ein Commitment. Und das wirkt. Du sagst klar und deutlich, dass du weißt, dass du nicht alle Antworten hast und darum Unterstützung brauchst. Du verpflichtest dich, an dir zu arbeiten und deine persönlichen Ziele zu erreichen. Und du gibst zu verstehen: Dafür stehe ich ein!

3. Gib die Verantwortung weiter!

So gewinnt der Schneeball an Eigendynamik: Wenn alle Führungskräfte, die direkt an dich berichten, in diesen Prozess eingebunden sind, dann können sie gar nicht anders, als sich ebenfalls zu verpflichten, an sich zu arbeiten. Und dann, wenn es sich durch verschiedene Ebenen der Organisation zieht, werden deren Mitarbeiter sie wiederum in die Verantwortung nehmen. So entsteht ein immer größer werdender Schneeball, idealerweise mit dem CEO in der Mitte. Während der Schneeball den Berg runterrollt, sammelt er immer mehr Menschen im Unternehmen ein. Und so verändert sich die komplette Führungskultur im Unternehmen.

Zwei Kardinalfehler

Im Idealfall läuft das so. Aber die Realität ist nie ein Idealfall. Der natürliche Feind des Schneeballs ist die Sonne. Die Sonne in unserem Fall hier sind erstens Inkonsequenz und zweitens die Angst vor der eigenen Verletzlichkeit.

1. Inkonsequenz ist keine Führungsstärke

Um diese Falle zu vermeiden, hat Clynton Bartholomeusz eine klare Ansage gemacht: Niemand, der durchwachsenes Feedback für seine Führungsfähigkeiten bekommt, wird gekreuzigt. Wer sich allerdings dann nicht bemüht, Schritte zu unternehmen, um besser zu werden, der sollte sich ein anderes Betätigungsfeld suchen! Ohne Wenn und Aber und auch dann, wenn diese Person gute Zahlen liefert.

Genau das hat er auch kompromisslos getan. Ein stärkeres Signal gibt es nicht. Was sich in der Folge zeigte: Der Schneeball gewann an Dynamik. Weil die Botschaft nun klar und unmissverständlich war: Entweder du übernimmst jetzt Verantwortung oder du kannst hier keine Führungskraft sein! Wer sich vor dieser Klarheit scheut, kann dabei zusehen, wie der Schneeball in der Sonne schmilzt und der Veränderungswille Stück für Stück erlahmt.

2. Angst vor der eigenen Verletzlichkeit

Führungskräfte, die offen über ihr Feedback reden und sich verpflichten, an ihren Schwachstellen zu arbeiten, machen sich verletzlich. Sie machen sich verwundbar, indem sie sich ungeschönt zeigen. Davor schrecken viele zurück und bleiben in der sicheren Schutzzone.

Diese Schutzzone zu verlassen ist in vielen Unternehmen alles andere als einfach. Sich zu öffnen und über Problemfelder zu sprechen, an denen man arbeiten will, suggeriert aus Sicht vieler, dass sie nicht gut genug sind oder mit dem Erwartungsdruck nicht mithalten können. Das schmerzt. Und ja, es wird womöglich ausgenutzt …
Deshalb ist es so wichtig, ganz oben an der Spitze mit diesem Schritt zu beginnen, sich zu öffnen und den Schneeball ins Rollen zu bringen. Wenn dieser Schritt ausbleibt, gibt es keine Dynamik und auch keine nachhaltige Veränderung in der Gesamtorganisation.

Brené Brown, Professorin an der Universität in Houston und eine der führenden Experten zum Thema Verletzlichkeit, sagt dazu: „Verletzlichkeit ist die Geburtsstätte von Liebe, Zugehörigkeit, Freude, Mut, Empathie und Kreativität.“

Und ich ergänze: Verletzlichkeit ist die Geburtsstätte von Schneebällen, die ins Tal rollen.