Ein Bauer, der jeden Tag hart auf dem Feld arbeitete, war mit seinem Leben unzufrieden. Er fühlte sich verloren. Eines Tages hörte er von einem weisen Mann, der in den Bergen lebte. Der Bauer beschloss, ihn aufzusuchen, um herauszufinden, wie er weise werden könnte.
„Wie kann ich Weisheit erlangen?“, fragte er den weisen Mann. „Bevor ich dir eine Antwort gebe“, sagte der Angesprochene, „habe ich eine Aufgabe für dich. Sieh dich um. Was siehst du?“ Der Bauer schaute sich um: „Ich sehe deinen Garten, Bäume, Vögel und Felder in der Ferne.“ Der weise Mann lächelte und gab ihm eine kleine Schale, die bis zum Rand mit Wasser gefüllt war. „Ich möchte, dass du mit dieser Schale durch meinen Garten gehst, ohne einen Tropfen zu verschütten. Wenn du das schaffst, werde ich dir die Antwort auf deine Frage geben.“
Der Bauer nahm die Schale in die Hände und begann seinen Weg durch den Garten. Er ging langsam, konzentriert auf die Schale, seine Augen fixiert auf das Wasser, um sicherzustellen, dass er nichts verschütten würde. Er bewegte sich mit Bedacht, achtete auf jeden Schritt, bis er schließlich den Garten durchquert hatte. Stolz kehrte er zum weisen Mann zurück und übergab ihm die Schale – kein Tropfen war verschüttet.
„Sehr gut“, sagte der weise Mann. „Und nun sage mir, was du auf deinem Weg gesehen hast.“ „Ich … habe nichts gesehen“, gestand der Bauer. „Ich war so konzentriert auf die Schale, dass ich auf nichts anderes geachtet habe.“
Der weise Mann lächelte. „Siehst du, so ist das im Leben. Weisheit erlangt man, wenn man lernt, seine Aufmerksamkeit auf das zu richten, was wirklich wichtig ist – ohne dabei den Blick für die Welt um einen herum zu verlieren. Du hast die Schale sicher gehalten, aber du hast den Garten, die Vögel und die Schönheit um dich herum übersehen.“ Er fuhr fort: „Weise wird man nicht durch das Streben nach einer einzigen Sache, sondern durch das bewusste Leben und durch Achtsamkeit. Lerne, aufmerksam zu sein für das, was in jedem Moment geschieht, und die Weisheit wird zu dir kommen.“
Der Bauer dankte dem weisen Mann und kehrte nach Hause zurück. Von diesem Tag an arbeitete er weiter auf seinem Feld, doch er tat es mit einer neuen Aufmerksamkeit. Er sah die Schönheit des Himmels, hörte das Singen der Vögel und spürte den Wind, der über die Felder strich. Und so fand er die Weisheit, die er einst gesucht hatte, in den kleinen Dingen seines täglichen Lebens.
Das Geheimnis des Glücks
Diese kleine Geschichte beschreibt sehr eindrücklich die gigantische Kraft, die in der Gegenwärtigkeit steckt. Ganz präsent zu sein. Zu einhundert Prozent im Hier und Jetzt.
Genau das fällt vielen extrem schwer.
„Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“
So hat es Blaise Pascal, einer der bedeutendsten französischen Mathematiker, Physiker und Philosophen, auf den Punkt gebracht. Er fand es befremdlich, dass viele Menschen immer im Außen, in der Dauerbeschäftigung, im konstanten Tun sind. Stille zuzulassen, Zeit und Energie in die Selbstreflexion zu investieren, wird von vielen weniger als Verheißung empfunden, sondern als Drohung. Ob man die Person, die man vorfindet und die Gedanken, die in der Stille hochsteigen, auch wirklich aushält, ist die Frage.
Obwohl fast 400 Jahre alt, ist Pascals Beobachtung zutreffender denn je.
Wir lieben worunter wir leiden
Wir leben in einer Zeit, in der konstante „Busyness“ ein Statussymbol ist. Ständig auf dem Sprung, immer in Eile. Menschen, die nicht in Eile sind, sind entweder arbeitslos oder unproduktiv oder unbrauchbar. Sie sind nicht agil, nicht alert, nicht aufgestellt, wie man in der Schweiz sagt. Wir lieben, worunter wir leiden.
Wenig überraschend deshalb, dass es für viele vollkommen normal ist, jeden Moment des Tages, jedes Vakuum im Tagesablauf sofort mit Aktivität zu füllen, um „produktiv“ zu sein. Insbesondere in den Führungsetagen ähnelt der Alltag dem eines Hamsters, der sein Rad auf Highspeed dreht: Zeitdruck, Hektik und ständige Krisenabwehr – begleitet von Meetings rund um die Uhr, Problemlösen im Dauertakt, und dem beständigen Zwitschern, Bimmeln, Vibrieren und Blinken des Smartphones. Platz im Kalender für die Stille? Fehlanzeige! Im eigenen Zimmer zu bleiben, wie es Pascal empfiehlt, erscheint vielen als Ding der Unmöglichkeit – ja, als kolossale Zeitverschwendung.
Das hat einen Preis: Menschen sind unaufmerksam, geistig abwesend – nie hundertprozentig zu Hause in sich selbst. Körper und Geist sind nie zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Sie sind nie da, wo sie sind – der Kopf ist stets anderswo.
Das führt dazu, dass Veränderungen, herannahende Probleme und Krisen – aber auch mögliche Chancen – erst sehr spät, wenn überhaupt, wahrgenommen werden.
Alle Meilensteine werden in rasender Geschwindigkeit abgearbeitet. Alle Quartalsplanungen pünktlich gemacht. Alles super! Doch leider wurde übersehen, dass sich ein neuer Wettbewerber mit einem disruptiven Geschäftsmodell aufgebaut hat. Warum hat das niemand kommen sehen?
Die Hinweise des eigenen Körpers werden ignoriert. Der stressbedingte Bluthochdruck, die chronischen Kopfschmerzen, die ständigen Schlafprobleme? Papperlapapp. Das wird schon wieder, wenn man in den zehntägigen Urlaub auf Madeira fliegt!
Debakel mit Ansage
In dem selbstgeschaffenen Leben im Hamsterrad auf Speed bleibt keine Zeit für die Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments.
Das ist paradox. Denn alles, was es gibt, ist der gegenwärtige Moment. Die Vergangenheit ist vergangen, die Zukunft ist ein geistiges Konstrukt – es wird sie im bewussten Erleben des einzelnen nie geben. Wenn wir die Zukunft erleben, ist sie die Gegenwart. Wer aber nie lernt, die Energie im Hier und Jetzt zu bündeln, kann auch die spätere Gegenwart niemals bewusst erleben.
Natürlich stehen wir oftmals unter enormen Termindruck. Natürlich sind wir Einflüssen ausgesetzt, über die wir keine Macht haben. Aber gleichzeitig gilt: Wenn beispielsweise eine wichtige Entscheidung zu treffen ist und ich nicht wirklich bei mir bin, sondern abgelenkt, dauergestresst und unaufmerksam, dann sind die Chancen hoch, dass sich die Entscheidung als veritables Desaster entpuppt. Als Debakel mit Ansage. Anschließend wird dann der Großteil der Zeit dafür aufgewendet, die daraus resultierenden Fehler zu korrigieren. Aber: Es gibt immer auch die Möglichkeit, die Hand zu geben und zu sagen: „Moment! Halt, stopp! Ich werde nicht sofort entscheiden. Ich möchte erst einmal in Ruhe darüber nachdenken.“
Ganz im gegenwärtigen Moment zu sein, ist ein echter Gamechanger. Wer Geschwindigkeit herausnimmt und bewusst im Hier und Jetzt ist, bleibt nicht auf der Strecke! Ganz im Gegenteil: Du verbrauchst weniger Energie, kommst schneller voran und denkst tiefer und weiter. Die Always-on-Mentalität ist der Feind des originellen Denkens.
Sich mit sich selbst und dem inneren Raum zu verbinden, ist der Türöffner. Große, neue Dinge geschehen leise in deinem Inneren. Gib ihnen die Aufmerksamkeit, die sie brauchen, um in ihrer ganzen Pracht zu erblühen.
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