Bei unternehmensinternen Führungskräfteveranstaltungen präsentiere ich gern die folgenden drei Aussagen und bitten die anwesenden Führungskräfte, sich auf einer Skala von 1-10 einzuordnen (1: trifft nicht zu, 10: trifft vollständig zu):
1. Ich habe langjährige Erfahrung in meiner Branche (z.B. Automobilzulieferer)
2. Ich verfüge über eine umfangreiche Expertise in meinem Fachbereich (z.B. HR)
3. Ich habe erfolgreich Karriere gemacht (z.B. Innerhalb von 8 Jahren vom Traineeprogramm zu Führungsebene 3)
Das Ergebnis ist fast immer gleich: Die meisten Führungskräfte geben sich bei Erfahrung, Expertise und Aufstieg gute bis sehr gute Noten. Sie ordnen sich bei allen drei Aussagen irgendwo zwischen 8 und 10 ein.
Das heißt, die Führungskräfte schätzen sich rundum kompetent ein.
So weit, so gut, so üblich.
Aber so gut wie niemand erkennt das Risiko, das exakt in dieser Selbstwahrnehmung liegt. Denn alle drei Fragen beziehen sich auf die Vergangenheit und lassen nur bedingt Rückschlüsse auf die Zukunft zu: Die Erfahrung wurde in der Branche gesammelt, wie sie in den letzten Jahren war. Aber ganz sicher ist: So bleibt es nicht. Massive Veränderung ist das neue Normal.
Die Expertise hat sich die Führungskraft in dem Fachgebiet angeeignet, wie es früher war. Alles, was in den nächsten Jahren an neuem Fachwissen dazukommt, kann die Führungskraft also noch nicht gelernt haben. Und möglicherweise verändert sich das Fachwissen gerade stark.
Und die Karriereleiter, die die Führungskraft erklommen hat, stand in dem Unternehmen, so wie es in den letzten Jahren war. Aber vielleicht verändert sich das Unternehmen in den nächsten Jahren stark. Vielleicht wird der Posten, den die Führungskraft sich erarbeitet hat, künftig unwichtig, während andere Positionen wichtiger und einflussreicher werden.
Interessanterweise erkennen die meisten Führungskräfte , dass sich ihre Branche, ihr Unternehmen und ihr Fachgebiet heute und in naher Zukunft erheblich verändern werden. Da wird kaum jemand widersprechen. Wenn sie aber konsequent wären, müssen sie einsehen, dass dann ihre geballte Kompetenz eben viel weniger wert ist, als sie bislang geglaubt haben.
Ansteckungschance
Mehr noch. Die Selbstwahrnehmung der Kompetenz ist nicht ohne Risiko, denn je erfahrener man ist, desto schwieriger wird es, einen offenen Geist zu bewahren. Das ist menschlich, aber es verhindert, ganz neue Herausforderungen zu erkennen und für altbekannte Probleme neue Lösungswege zu entdecken.
Warum? Weil Menschen mit enormer Erfahrung beginnen, sich auf ihre Erfahrung zu verlassen. Im Effekt entwickeln sie eine Art Tunnelblick, der dazu führt, dass sie genau die gleichen Chancen und Risiken sehen, wie all die anderen erfahrenen und alteingesessenen Wettbewerber auch. Und dass sie ausgerechnet die Chancen und Risiken übersehen, die aufgrund des verengten Gesichtsfelds von allen erfahrenen und alteingesessenen Wettbewerbern übersehen werden. Das öffnet eine gefährliche Flanke. Und zwar nicht gegenüber den anderen alten Hasen, sondern eine sperrangelweit offene Tür für Neu- oder Quereinsteiger, die mit disruptiven Ideen den Markt aufmischen.
Mit anderen Worten: Alle Erfahrung und Expertise, die dich dahin gebracht hat, wo du heute stehst, steht dir dann am allermeisten im Weg, wenn du neue Pfade entdecken willst. Und musst.
Diese Tendenz zum Tunnelblick mit allen damit verbundenen negativen Auswirkungen erst einmal für sich selbst zu erkennen – das ist der erste Schritt. Der zweite Schritt besteht dann darin, etwas dagegen zu tun – z.B. „Lift & Shift“.
Lift & Shift? – Dahinter steckt folgender Gedanke: Ideen, die in einer Branche absoluter Standard sind, können geradezu revolutionär sein, wenn sie aus ihrem originären Kontext herausgenommen werden (LIFT) und in eine andere Branche übertragen werden (SHIFT). Das funktioniert insbesondere dann, wenn diese Ideen die vorherrschenden Annahmen und die konventionellen Überzeugungen der Branche in Frage stellen.
Ich habe bereits darüber geschrieben. Hier: Ferrari im OP-Saal
Und hier habe ich ein weiteres erhellendes Beispiel. Owen Sanderson hat in seinem Blog davon erzählt. Er ist Business Designer und arbeitet für IDEO, die Design- und Innovationsberatung, die das Konzept des Design Thinking populär gemacht hat. Voilá:
Die Patientenreise
Der Ausgangspunkt: Die chirurgische Abteilung eines Krankenhauses möchte die gesamte Patientenerfahrung verbessern und komplett neu gestalten – vom Check-in bis zum Check-out. Dafür wurde ein Team von Chirurgen, Anästhesisten, Krankenschwestern und Verwaltungsmitarbeitern zusammengestellt. Etwa zur Hälfte des Projektes wird den Beteiligten deutlich, dass sie nicht weiterkommen und Inspiration von außerhalb der Gesundheitsbranche benötigen.
Die Frage ist: Von wo? In welcher Branche lassen sich Anregungen finden?
Das Team kommt auf die Luftfahrtbranche. Aufgabe einer Fluggesellschaft ist es, Passagiere von A nach B zu befördern und damit verbunden ein kundenorientiertes Reiseerlebnis zu bieten. Fluggesellschaften investieren viel, um diese Art von nahtloser Kundenerfahrung zu schaffen. Anders sieht es in der Chirurgie aus. Dort steht häufig nicht die gesamte Patientenreise im Fokus, sondern nur ein kleiner Teil – hier wird insbesondere auf die Operation selbst fokussiert.
Aber wenn man genauer schaut, finden sich erstaunliche Parallelen im Arbeitsalltag von Chirurgen und Mitarbeitern von Fluggesellschaften: Stress, Arbeit unter hohem Druck, ein hohes Maß an Teamkoordination. Tatsächlich können diese Branchen viel voneinander lernen.
Lift and Shift: Um den Blick für die gesamte Erfahrungskette von Reisenden zu öffnen, ist das Krankenhausteam für einen Vormittag zum Boston Logan Airport gefahren und hat sich genauer angesehen, was die Fluggesellschaft Jet Blue macht, die für guten Kundenservice bekannt ist. Zwei interessante Erkenntnisse konnte das Krankenhausteam mitnehmen:
1. Der Check-in. Dem Krankenhausteam wurden Pseudo-Bordkarten ausgehändigt, um damit für einen Flug einzuchecken. Das war augenöffnend, denn es gibt jede Menge Parallelen zwischen der Patientenerfahrung und der Reiseerfahrung: Am Flughafen gibt es verschiedene Optionen für Familien, allein reisende Kinder oder Menschen mit Behinderungen oder Vielflieger. Im Krankenhaus gilt: Eine Option für alle Patienten, aber die Patienten sind eben nicht alle gleich.
2. Der Just-Ask-Schalter. Die Idee: Kunden von JetBlue können dort alles fragen. Der Weg zum nächsten Wickelraum, das Wetter am Zielort der Reise oder die Umbuchung. Die Jet Blue-Mitarbeiter helfen den Passagieren in allen möglichen Belangen – auch über ihre üblichen Stellenbeschreibungen hinaus. Die Übertragung aufs Krankenhaus: Ein Infoschalter, an dem Patienten und ihre Angehörigen alle Unterstützung erhalten, die sie brauchen.
Drei Tipps fürs Lift & Shift
Was also kann ein Unternehmen von einem anderen aus einer anderen Branche lernen? Jede Menge! Das funktioniert insbesondere dann sehr gut, wenn es Analogien gibt – wenn es also um verwandte, aber nicht identische Branchen geht. Um solche analogen Branchen zu finden, müsst ihr nach versteckten Verwandtschaften fahnden, die sich erst bei genauerem Hinsehen erschließen.
Klingt gut, aber wie erkannt man die analogen Felder? Dazu drei Tipps:
1. Sucht Branchen, die weit genug von eurer eigenen entfernt sind. Das verhindert von vornherein das Risiko, an den altbekannten Ideen festzuhängen. Ein Maschinenbauer sollte sich also nicht nur anschauen, wie ein anderer Maschinenbauer arbeitet. Es sollte sich stattdessen vielleicht mal in einem Stadion oder in einer Skischule umsehen, um zu verstehen, wie dort die Arbeit organisiert wird – und vielleicht schlummert dort auch eine bahnbrechende Idee.
2. Haltet Ausschau nach Branchen, die in ihrer Entwicklung schon ein gutes Stück weiter sind. Das ist oft dann der Fall, wenn das zu lösende Problem in anderen Branchen noch dringlicher ist, weil beispielsweise der Wettbewerbsdruck noch härter ist oder neue Technologien dort bereits den Umbruch der vertrauten Wettbewerbslandschaft beschleunigt haben.
3. Schaut mit offenen Augen über den Tellerrand der eigenen Branche. Sucht den Austausch mit Menschen aus anderen Märkten und Gebieten, lest viel und breit, besucht auch mal Kongresse, die ihr üblicherweise nicht im Fokus habt! Seid aktiv auf Business Plattformen wie LinkedIn oder Xing, auf denen spannende Menschen aus den unterschiedlichsten Branchen sich austauschen!
Das alles erfordert von der Führungsriege eine Haltung, die sich durch Offenheit, Lernbereitschaft und auch eine Portion gesunde Bescheidenheit auszeichnet.
Wie steht es mit diesen drei Eigenschaften bei euch auf einer Skala von 1 bis 10?
„There are no experts of tomorrow, only of yesterday.“ – Jack Ma