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Kintsugi – Narben aus Gold

Diesen Beitrag habe ich für mich geschrieben.

Warum?

  • Weil ich in meinen fünf Lebensjahrzehnten eine wichtige Lektion lernen durfte: Das Leben ist keine gerade Linie, die schnurstracks von einem positiven Erlebnis zum nächsten führt, sondern es hält auch immer wieder schmerzliche Momente bereit. Verluste, Trennungen, Krankheiten und andere tragische Ereignisse, die Narben und Verletzungen hinterlassen.
  • Weil ich in einer Welt, die allzu gern an die Illusion der Perfektion glaubt, lange gebraucht habe, um den konstruktiven Umgang mit Rissen und Bruchstellen zu lernen und weil mir Kintsugi sehr dabei geholfen hat.
  • Weil sich, seit ich zum ersten Mal von Kintsugi gehört habe, meine Sichtweise auf das Leben verändert hat.

1. Vergiss Perfektion

Wir Menschen neigen dazu, auf ein perfektes Leben zu hoffen. Wir träumen von einer perfekten harmonischen Beziehung, von einem Job, der uns erfüllt und einem glücklichen Familienleben.

Das Blöde ist nur, dass sich das Leben partout nicht daran hält. „Es gibt Zeiten, in denen dir alles gelingt“, sagte der britische Schauspieler und Regisseur Sir Peter Ustinov – um trocken nachzulegen: „Das braucht niemanden zu beunruhigen. Sie gehen schnell vorüber.“

Perfektion ist also reine Theorie, die angesichts des realen Lebens zur schieren Illusion wird.

Aber wie kommst du durch die wenig perfekten Zeiten? Was tun, wenn es beruflich grottenschlecht läuft, zu Hause das Chaos regiert, der Partner mault und die Kinder gleich dazu? Oder wenn es mit deiner Gesundheit überhaupt nicht so läuft, wie du dir das wünscht? Wenn sich das Leben scheinbar gegen dich verschworen hat?

Augen zu und durch?
Oder es als Ansporn zum Umdenken nutzen?

2. Was Zen Buddhismus mit der Kunst der Keramik zu tun hat

In diesen Momenten der kleineren und großen Krisen, Umbrüche und Verluste, die das Leben in schöner Regelmäßigkeit für uns bereithält, ist es hilfreich, sich mit der japanischen Kintsugi Philosophie zu beschäftigen. Verkürzt ausgedrückt ist Kintsugi die Philosophie der Wertschätzung des Nicht-Perfekten.

Kintsugi ist eigentlich eine Kunst, die darin besteht, zerbrochene Töpferwaren mit einer Mischung aus Lack und Goldstaub zu reparieren. Die Zen-Meister kultivierten die Tradition, beschädigte oder zerbrochene Tassen oder Schalen nicht einfach wegzuwerfen, sondern durch kunstvolle Reparaturen Gegenstände entstehen zu lassen, die ihre ganz eigene Geschichte erzählen und gerade deshalb an ideellem Wert gewinnen. Das Wort, das dieser Tradition der Keramikreparatur gegeben wurde, ist Kin Tsugi. Kin (Gold) und tsugi (verbinden, reparieren).

3. Die Schönheit der „Bruchstellen“

Kintsugi bedeutet, die Bruchstücke eines versehentlich zerbrochenen Teegefäßes oder einer Schüssel wieder zusammenzusetzen. Es wird bewusst kein Versuch unternommen, den Schaden zu kaschieren. Vielmehr geht es darum, die Verwerfungslinien schön und stark zu machen. Die kostbaren Goldadern sollen betonen, dass Brüche einen ganz eigenen Wert haben.

4. Nachhaltiges Upcycling der japanischen Art

Die Ursprünge von Kintsugi liegen in der Muromachi-Zeit, als dem japanischen Shogun Ashikaga Yoshimitsu die Lieblingsteeschale zerbrach und er diese zur Reparatur nach China schickte. Als die Teeschale zurückkam, war er entsetzt über die hässlichen Metallklammern, die verwendet worden waren, um die zerbrochenen Teile zu verbinden. Er beauftragte seine Handwerker, eine bessere Lösung zu finden. Ihre Lösung: den Schaden und das Unvollkommene nicht verschleiern, sondern etwas Kunstvolles daraus machen.

5. Das Leben als Teeschale

Übertragen auf dein Leben bedeutet Kintsugi, Brüche und Tiefschläge und die daraus resultierenden Narben nicht zu kaschieren, sondern in ihnen einen eigenen Wert zu erkennen.

Das klingt gut, hält aber dem Realitäts-Check in vielen Fällen nicht stand: Für die allermeisten Leute gilt immer noch: Brüche und Tiefschläge sind blöd, Narben noch blöder und am aller blödesten ist es, diese nach außen zu zeigen. Das ist die Logik, der viele bis heute folgen.

6. Verletzlichkeit und das Nicht-Perfekte

Von Kindesbeinen an heißt es: Jammer nicht! Sei stark! Nach dem Regen kommt die Sonne! Morgen ist es wieder besser!

Wir sind nicht gut darin, mit Krisen und Umbrüchen umzugehen, weil sie Unsicherheit erzeugen und verletzlich machen. Darum legen sich viele eine Camouflage der Perfektion zu.

Transformationszeiten wie die heutigen sind jedoch voller (Um)Brüche. Das sind herausfordernde Zeiten für alle, die glauben, man könne eine eigene Realität entwerfen, die das Verletzliche ignoriert – und dann genau damit in Konflikt geraten.

7. Mut ist der Schlüssel

Dabei können wir unsere Brüche, Narben und Verletzungen annehmen – und sogar offen darüber reden. Erstaunlicherweise geht die Welt davon nicht unter. Ganz im Gegenteil: Sich verletzlich zu zeigen, ist in Wahrheit nicht Schwäche, sondern Stärke – und wirkt auch so!

Das habe ich selbst immer wieder für  mich festgestellt: Es erfordert verdammt viel Mut, andere sehen zu lassen, wie es in deinem Inneren aussieht. Gleichzeitig aber gilt: Nur wer sich verletzlich zeigt, erfährt echte Verbundenheit mit anderen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die amerikanische Forscherin und Bestsellerautorin Brené Brown vollkommen richtig liegt, wenn sie sagt, dass das Streben nach Perfektion und Unverwundbarkeit uns nicht stärker macht, sondern uns unserer Entwicklungsmöglichkeiten beraubt. Verletzlichkeit zuzulassen ist nicht gleichbedeutend mit Schwäche. Im Gegenteil: Sie ist der verlässlichste Gradmesser unseres Mutes.

8. Narben aus Gold

Unser Leben verläuft nicht linear und schon gar nicht nach dem großen Masterplan. Die (Um)Brüche sind eine Einladung, die Fragmente genauer zu betrachten und Verbindungen aus den einzelnen Lebensereignissen herzustellen.

Kintsugi eröffnet dir dazu eine neue Perspektive: Das ehemals zerbrochene und jetzt veränderte Gefäß hat in seiner neuen Gestalt einen neuen Platz in der Welt bekommen und doch seine alte Form nicht verloren. Es verbindet sowohl das Alte als auch das Neue – mit Narben aus Gold.

9. Was uns zum Unikat macht

Deine und meine Narben bezeugen es: Wir alle haben schon Krisen überlebt. Die Narben nicht als Makel, sondern als Zeichen der Veredelung, als Beweis der eigenen inneren Stärke zu sehen, das kann ein sehr kraftvoller Perspektivenwechsel im Leben sein.

Jede Bruchstelle macht eine Keramik zum Unikat. Eine Teeschale zerbricht nie zweimal auf die gleiche Art und Weise. Ebenso wie ein Mensch nie zweimal auf die gleiche Art und Weise eine Krise erlebt. Unsere Narben machen uns nicht nur besonders, sie machen uns schön – weil menschlich. Bruchstellen im Sinne von Kintsugi anzunehmen, bedeutet, nicht nur „neu zusammengesetzt“ aus Krisen hervorzugehen, sondern veredelt.

10. Wertvoll aufgrund der Brüche

Wie wäre es, ganz einfach zu akzeptieren, dass Narben nichts sind, was du verstecken musst, sondern etwas, worauf du stolz sein kannst? Weil sie deine Geschichte erzählen: Von Erfahrung und deiner Kraft, dich trotz aller Widrigkeiten wieder aufzurappeln.

Es liegt an dir, diesen Perspektivwechsel zuzulassen.

Du bist nicht wertvoll trotz deiner Brüche und Narben, sondern aufgrund ebendieser.