Im Kultfilm Matrix gibt es eine Schlüsselszene:
Auf einem kleinen, beleuchteten Tisch liegen zwei Pillen: eine leuchtend blau, die andere intensiv rot.
Der rätselhafte Morpheus stellt Neo vor die Wahl:
Rote oder blaue Pille?
Schluckt Neo die blaue Pille, kehrt er zurück in die heile Traumwelt, die die Matrix für ihn konstruiert hat. Die rote Pille dagegen wird ihm die Augen öffnen für die Welt, wie sie tatsächlich ist.
Neo wählt die rote Pille … und der Schleier fällt!
Er erkennt, dass er in einer gefälschten Realität namens Matrix gelebt hat.
Alles, was er bisher gesehen hat, war eine Illusion, die geschaffen wurde, um ihn zu blenden.
Er sollte die Wahrheit nicht erkennen.
Warum haben wir es nicht kommen sehen?
So wie Neo in Matrix, so haben auch wir im übertragenen Sinn jeden Tag die Wahl zwischen der roten und der blauen Pille. Die Einnahme der roten Pille kann Dinge enthüllen, die wir nicht sehen wollen. Mit der roten Pille wachen wir auf. Wir sehen die Realität.
Weil die Realität im Gegensatz zur Illusion ganz schön hart sein kann, ist die Versuchung groß, sich unbewusst immer wieder für die blaue Pille zu entscheiden. Die blaue Pille lässt uns die Augen vor dem verschließen, was wir nicht sehen wollen, was unangenehm ist, was schmerzhaft ist, was verändert werden müsste. Das Augenmerk liegt darauf, sich wohlzufühlen und das eigene Weltbild bestätigt zu sehen. Frei nach dem Motto: Ich bastle mir die Welt, wie sie mir gefällt.
Aber wer zu lange an überholten Annahmen festhält, wer unbequeme Entwicklungen ignoriert, wird irgendwann von der Realität eingeholt – oft mit brutaler Wucht. Dann implodiert die Wünsch-dir-was-Welt dramatisch und der Aufschlag auf dem Boden der Realität ist brutal hart.
Das gilt für Individuen und Unternehmen, für Gesellschaften und ganze Kontinente.
In der Beziehung: Der Zettel, der „plötzlich“ auf dem Küchentisch liegt: „Tschüss, das war’s mit uns beiden. Ich ziehe aus.“
In der Wirtschaft: Die neue Technologie, etwa eine bahnbrechende KI-Lösung, der „plötzlich“ aus dem Nichts auftaucht. „Wahnsinn, plötzlich ändert das die Spielregeln in unserem Markt komplett.“
Oder in der Politik: „Das darf nicht wahr sein! Plötzlich kündigen uns die USA die Freundschaft auf und wir stehen ohne Unterstützung da.“
Tatsache aber ist: Nicht einmal Meteoriten tauchen plötzlich auf.
Fast alles war schon längst da oder hat sich in seiner Entwicklung abgezeichnet!
Vier Phasen der Verleugnung
Die Frage, die sich stellt: Warum haben wir das nicht kommen sehen?
Weil wir nicht genau hingesehen haben.
Oder es vielleicht auch gar nicht wollten.
Diese Form der Verdrängung ist kein Einzelfall. Sie folgt einem Muster, das der Management-Vordenker Gary Hamel als die vier Phasen der Verleugnung beschrieben hat:
Phase 1: Ignoranz
Beunruhigende Entwicklungen werden entweder als bedeutungslos oder nicht plausibel bezeichnet.
Phase 2: Abwiegeln
Fortschreitend bedrohliche Entwicklungen werden als Ausnahmen von der Regel und vorübergehende Phänomene rationalisiert.
Phase 3: Zurückweichen
Widerwillig werden erste defensive Maßnahmen behäbig in Gang gesetzt.
Phase 4: Höchste Not
Gezwungenermaßen setzt man sich mit der Realität auseinander und muss – oftmals sehr widerwillig – Konsequenzen ziehen.
Lerne in Fragen zu denken und nicht in Gewissheiten
Wir tun also gut daran, uns immer wieder selbst frühzeitig und aus freien Stücken eine kräftige Dosis rote Pille zu verabreichen. Und zwar, bevor wir mit dem Rücken zu Wand stehen.
Was heißt das konkret? Was ist der Wirkstoff, der in der roten Pille steckt und der die Realität zum Vorschein bringt – egal wie unangenehm, anstrengend oder herausfordernd sie auch sein mag?
Der Wirkstoff ist das Fragen!
Fragen stellen. Nichts für sakrosankt nehmen. Nicht der Versuchung nachgeben, Veränderungen, die als störend empfunden werden, wegzuvernünfteln.
Die Grundfrage dazu lautet: Was wäre, wenn meine Annahme falsch wäre?
Genau das ist das Heilmittel gegen das verblüffte Gesicht angesichts großer Veränderungen: Eine konsequent ketzerische Grundhaltung!
Halte Ausschau nach Irritationen.
Nach Widersprüchen.
Nach Musterbrüchen.
Hinterfrage Standardaussagen.
Entlarve die Dogmen deiner Branche, deines Unternehmens und deines eigenen Lebens!
Keine Frage, das ist herausfordernd – aber auch sehr wirkungsvoll.
Was beim Aufspüren von Dogmen und Hinterfragen von Überzeugungen eine wirkungsmächtige Unterstützung ist: Finde einen potenziellen Kritiker, der kein Problem damit hat, dir zu widersprechen, und bitte ihn oder sie um Feedback. Dann versuche im zweiten Schritt die Argumente wirklich zu verstehen und nicht nur zu hören. Achte darauf, dass du nicht in die Versuchung gerätst, in die Verteidigungshaltung zu gehen. Es geht darum zu verstehen, was er oder sie kritisiert.
In meinem Beitrag Pflicht zum Widerspruch habe ich darüber geschrieben.
Persönlich könntest du das mit einem „Challenge Netzwerk“ umsetzen, indem du dir für wichtige Fragestellungen eine ausgewählte Gruppe von Menschen zusammenstellst, die dir sagen, was du nicht hören willst, aber hören musst.
Hinterfragen unerwünscht?
Theoretisch sind damit viele einverstanden, aber in der Praxis sieht es oftmals anders aus. Gerade in hierarchischen Strukturen ist Widerspruch ein echter Karrierekiller allererster Güteklasse. Karriere wird durch möglichst geschmeidige Anpassung gemacht und nicht durch Widerspruch, der darauf zielt, blinde Flecken zu entlarven.
Hinzu kommt: Hören, was ich nicht hören will, aber hören muss – das ist anstrengend und nicht jedermanns Ding. Es kann die selbst gebastelte heile Welt gehörig ins Wanken bringen. Und es erfordert deutlich mehr Anstrengung als die übliche Praxis, einmal zu denken und dann die Sache abzuspulen.
Gleichzeitig aber gilt: Nur so gelingt es, die eigenen Denkkonstrukte aufzubrechen – oder zumindest ein wenig umzubauen. Darauf kommt es an in einer Welt, in der tiefgreifende demografische, geopolitische, technologische und ideologische Brüche und Veränderungen das neue Normal sind.
Im Umgang mit diesen Herausforderungen gilt: Wenn du unfähig bist, die gewohnten Denkbahnen zu verlassen, wird die Zukunft dich immer überraschen. Das, was wir am dringendsten tun müssen: Die Vormacht der eigenen lang gehegten Überzeugungen und scheinbaren Gewissheiten zu hinterfragen.
Aber das geht nur in einer Erwachsenenkultur, in der alle Beteiligten gefestigt genug sind, auf Augenhöhe miteinander zu reden.
Bist du dafür bereit?
Je mehr wir die Bereitschaft stärken, auch unbequeme Fragen zuzulassen, desto passender und selbstbestimmter können wir auf die Realität reagieren.
Also: Schau genau hin. Stell auch die unbequemen Fragen. Akzeptiere die unbequemen Antworten.
Denn so kannst du wirklich wachsen.
Du willst keinen Beitrag mehr verpassen?
Dann vernetze dich mit mir auf #LinkedIn oder auf #Instragram