“Was willst du den mal werden, wenn du groß bist?“
„Ich werde Müllmann!“ kommt postwendend die Antwort des fünfjährigen Max.
Seine Patentante Susanne, die alles, aber nicht diesen Berufswunsch erwartet hat, bohrt nach: „Aber Max, warum das denn?“
„Na, ist doch klar! Dann muss ich nur montags arbeiten!“
Diese Geschichte, die mir eine Bekannte von ihrem Patensohn erzählte, brachte uns zum Lachen.
Aus der Sicht von Max ist sein Berufswunsch absolut logisch: Die Müllmänner kommen immer montags gleich um 7.00 Uhr. Sie fahren mit einem riesengroßen Wagen vor, der blinkt und ganz viel Lärm macht, was Max klasse findet – und sie machen das einmal pro Woche. Tante Susanne scheint gehörig auf der Leitung zu stehen, dass sie nicht kapiert, was das für ein cooles Leben ist!
Wahrnehmung wird durch die individuelle Perspektive und die Bedeutungszuweisung geformt. Wenn Max sieht, dass das Müllauto nur einmal pro Woche kommt und deshalb der Job bei der Müllabfuhr ein echter Traumjob ist, dann ist das für ihn wahr. Er kann es ja nicht „falschnehmen“.
Das gilt auch für deine und meine Lebensrealität. Die Welt ist in unseren Köpfen. Und sie ist abhängig von unserer Erfahrung und Interessen, die wiederum unsere Aufmerksamkeit steuern.
Soweit – so normal.
Denkfehler sind das Problem!
Problematisch wird es immer dann, wenn ich das, was ich sehe, für eine „unverrückbare“ Wahrheit halte. In einer Welt, die sich durch Globalisierung, Digitalisierung, disruptive neue Technologien und jede Menge Krisen und Herausforderungen in atemberaubendem Tempo ändert, ist ein Denken, das an ehernen „Wahrheiten“ festklebt, brandgefährlich. Wer nicht hinterfragt, hat schon verloren!
Die innere Verfasstheit vieler Organisationen und vieler Menschen spiegelt das allerdings nicht wider. „So ist das! Und bitte nicht anders! Ich weiß das ganz genau!“ Das Bescheidwisser-Gen tragen wir alle in uns. Man nennt es auch Filterblase oder selektive Wahrnehmung. Alte Denkpfade werden nicht verlassen. (Selbst)kritisches Hinterfragen tradierter Überzeugungen, Formeln und Rezepte findet unter diesen Bedingungen nicht statt. Wie auch?
Der Mensch ist ein Meister der Selbsttäuschung. Viele klammern an ihrer Weltsicht, hinterfragen niemals altvertraute Sichtweisen – die dann „Standpunkt“ genannt werden. Aus dieser Selbsttäuschung entstehen gefährliche Illusionen, die uns hindern neue Einsichten zu gewinnen und klüger zu werden.
Damit das Klügerwerden überhaupt eine Chance hat, braucht es die Bereitschaft, einen anderen Blickwinkel zuzulassen. Das ist nicht bequem, aber wirksam!
- Also den eigenen Denkrahmen immer mal wieder sprengen!
- Alte Gewissheiten hinterfragen und Ungewissheit und Mehrdeutigkeiten annehmen!
- Sich nicht von scheinbaren Eindeutigkeiten, unumstößlichen Überzeugungen und dauerhaften Entscheidungen blenden lassen!
Was gestern galt, ist heute überholt.
Geistige Dehnübungen für flexibleres Denken
Was der Flexibilität des Denkens am meisten im Weg steht, ist, dass unser Gehirn nach Effizienz strebt und möglichst ressourcenschonend arbeiten möchte, denn Energie und Verarbeitungskapazität sind begrenzt. Das erklärt die ausgeprägte Neigung unseres Denkapparats, nach Mustern und Routinen zu suchen, um Energie zu sparen und Entscheidungsprozesse zu vereinfachen. Das schließt auch komplexe Sachverhalte ein, für die unser Gehirn dann versucht, eine Ursache zu finden: „Aha, deshalb ist es so!“ Andere mögliche Ursachen und Zusammenhänge werden ausgeblendet. Wie sehen Dinge monokausalistisch, also in einem einfachen „aus A folgt B“-Zusammenhang.
In einer immer komplexeren Welt ist das ein Fluch. Wer die Dinge einseitig betrachtet, übersieht die wichtigen Entwicklungen, die nicht im eigenen beschränkten Sichtfeld liegen. Wir werden „blind“ für das, was im größeren Kontext passiert!
Der erste Schritt liegt darin, zu erkennen, dass die eigene Sichtweise beschränkt und verengt ist. Anders formuliert: Voraussetzung für einen Perspektivenwechsel ist die Erkenntnis: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ sowie die Offenheit und Bereitschaft, nicht alles zu glauben, was ich denke.
Drei geistige Dehnübungen, die gegen Monokausalitis und Engstirnigkeit helfen:
1. Intellektuelle Demut
Intellektuell demütig zu sein, heißt: Ich akzeptiere, dass ich mich irren kann! Das ist keine Koketterie, sondern das Ergebnis von Selbstreflexion, kritischem Hinterfragen und intellektueller Offenheit.
Egal wie intelligent du bist – wenn du nicht bereit bist, deine Meinung zu ändern, kultivierst du Dogmatismus. Und das ist keine Tugend, das ist Dummheit!
Der Organisationspsychologe Adam Grant verweist in seinem Buch Think Again auf Forschungen, die zeigen, dass gerade bei Menschen, die in Intelligenztests überdurchschnittlich gut abschneiden, die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie auf Stereotype hereinfallen, also auf relativ starre, überindividuell geltende Vorstellungsbilder. Warum ist das so? Grant erklärt es so: Menschen mit einem hohen IQ sind schneller in der Mustererkennung.
Zu abstrakt? Okay, dann ganz konkret: Jemand ist absolut davon überzeugt, objektiv zu sein. Auf die Frage „Bist du voreingenommen?“ würde diese Person entrüstet antworten: „Nein, natürlich bin ich das nicht!“
Aber intelligente Menschen geraten eher in diese Denkfalle, so Grant. Denn je intelligenter jemand ist, desto schwieriger kann es sein, eigene Grenzen zu erkennen. Gut im Denken zu sein, kann also geradewegs dazu führen, dass man schlechter darin ist, Dinge zu überdenken.
Intellektuelle Demut heißt: Geh nicht nur unvoreingenommen an eine Sache heran, sondern gehe aktiv unvoreingenommen heran! Suche also nach Gründen, warum du falsch liegen könntest – und nicht nach Gründen, warum du richtig liegen musst!
2. Konstruktive Meinungsverschiedenheiten
Puh, das ist starker Tobak für viele! Unterschiedliche Meinungen zuzulassen? Wo kommen wir denn da hin?! Also bleibt man „unter sich“ und sucht Menschen, die einen selbst bestätigen. Damit korrespondiert die Neigung, sich an „einzig richtigen“ Standpunkten, Konventionen, Mustern und Normen festzuklammern.
Jemand nimmt die Dinge komplett anders wahr?
Jemand glaubt etwas anders, handelt anders und lebt anders als man selbst?
Der tickt ja wohl nicht ganz richtig!
Viele glauben zu wissen, wie „man“ zu denken und zu handeln hat! Damit machen sie ihre eigenen Wertmaßstäbe, Denk- und Sichtweisen für alle anderen verbindlich.
Mit welchem Recht eigentlich?
Sich auf produktive Meinungsverschiedenheiten einzulassen und eine Kultur des offenen Dialogs zu fördern, ist anstrengend – aber sehr lohnend! Wenn ich anderer Meinung bin und mich darauf einlasse, die Dinge mit den Augen des Anderen zu sehen, dann ergänze ich meine Sichtweise, erkenne blinden Flecken und kann daraus lernen. Meine Sicht durch die Fremdsicht zu ergänzen, ist eine ebenso wertvolle wie notwendige Zutat für konstruktive Debatten zur Verbesserung der Entscheidungsfindung, zur Entwicklung von Innovationen und letztlich auch zur Stärkung von Beziehungen.
Deshalb ist es eine gute Idee, Freundschaften mit Menschen aus unterschiedlichsten Bereichen zu pflegen und deren „Wirklichkeiten“ zu lauschen. Und vor allem: nicht gleich zu werten, sondern es als Einladung zu verstehen, andere Perspektiven als die eigene zuzulassen.
3. Kognitive Flexibilität
Anstatt auf altbekannten Annahmen zu beharren und mit so-wie-immer-Lösungen an Probleme heranzugehen, geht es bei der kognitiven Flexibilität darum, das Denken flexibel neuen Erkenntnisse anzupassen und alternative Perspektiven in Betracht zu ziehen.
Wie lässt sich das trainieren? Beispielsweise, indem du bewusst dein Sichtfeld erweiterst, indem du Artikel oder Podcasts außerhalb deines eigenen Fach- oder Interessengebietes liest und hörst. Oder zu einem Kongress oder einem Treffen gehst, das so nicht auf deiner üblichen Agenda steht.
In meinem Leben erfüllt das Reisen die Funktion des geistigen Korrektivs. Ich stelle immer wieder fest, dass das Reisen, das Leben und Arbeiten in einem fremden Land mich zunächst zur Fremden macht. Es fordert mich heraus und beraubt mich gleichzeitig meiner eingefahrenen Denkmuster.
Wie auch immer du das für dich handhabst: Wichtig ist, „Maßnahmen“ in das eigene Leben zu integrieren, die die Perspektive erweitern und unterstreichen, dass die eigene kleine Welt und die damit verbundene Sicht der Dinge nicht die einzige auf der großen weiten Welt ist. Dass man die Dinge auch anders betrachten kann.
…. und den Gedanken zuzulassen, dass das Müllauto womöglich am Dienstag in einem anderen Stadtteil mit lautem Getöse und blinkenden Lichtern vorfährt.