„Neiiin!“
„Doch, Anja“
„Wie soll das denn gehen?“
„Oh weia! Gleich knalle ich mit dem Gesicht auf den Boden!“
Auf den Händen balancieren, die Füße sollen gleichzeitig in der Luft schweben … ich versuche mich an einer Yoga-Armbalance, die nicht so recht funktionieren will. Kein Wunder, dass ich die Balancehaltungen immer mit sehr gemischten Gefühlen betrachtet habe. Sind meine Arme überhaupt stark genug, um meinen Körper zu stützen?
Während meines großartigen Yoga-Retreats auf Schloss Elmau stelle ich fest: Mich trotz meiner Bedenken darauf einzulassen und es einfach zu probieren, kostet mich Überwindung. Wohlfühlen geht anders! Gleichzeitig erfahre ich: Mich spielerisch und mutig aus der eigenen Komfortzone zu wagen, ist eine sehr wertvolle Erfahrung, die mich dazu bringt, über meinen eigenen Schatten zu springen.
Das Motto von Nicole Bongartz, der Yogalehrerin, die mich und 15 andere Yoginis durch das Retreat leitet, heißt:
„Verbinde dich mit deinem Potenzial und deiner Lebensfreude. Genau das ist immer wieder körperlich und mental herausfordernd, denn ein großer Teil deiner Energie ist noch ungebunden. Wenn du aber diesen Weg gehst, ist es ein guter Weg, um Ängste zu überwinden und dir und deinem Körper zu vertrauen.“
Just do it
„Sei mutig!“
„Just do it!“
„Yes, you can!“
„Spring über deinen Schatten!“
All das sagt sich leicht und bringt viele Likes für Postings in den Sozialen Medien, die die tiefe Sehnsucht nach dem mutigen Sprengen selbstgesetzter Grenzen bedienen. Garniert mit ein paar Memes, Challenges und Videos, die die Message bebildern, dass es „cool“ sei, mutig zu sein und es dir selbst und den anderen mal so richtig zu zeigen.
Sich was zu trauen – dafür sind praktisch alle. Allerdings: Reden ist nicht Handeln. Für den mutigen Aufbruch reicht es dann doch nicht. Maximal für ein bisschen „Abenteuer mit Airbag“ bei Jochen Schweizer. Gesucht wird nicht das absichtsvolle Überschreiten selbstgesetzter Grenzen, sondern das zügig verbesserte Daseinsgefühl.
Darin liegt das Problem. Denn wo alles Wohlfühlzone ist, wo keine Neugierde ist und kaum Wagemut, da ist alles auch sterbenslangweilig – und dieses Wort ist kein Zufall.
Abbiegen von der gut ausgeschilderten Straße
Sich im Altbekannten zu bewegen ist die Nummer sicher. Die eigene Komfortzone ist ein wohlig warmer Bezugspunkt, aber es ist auch ein enges Korsett. Je häufiger du darin verweilst, desto mehr führt es dazu, dass du übervorsichtig wirst.
Das ist die schlechte Nachricht für alle Komfortzonenbewohner: Weiterentwicklung erfolgt nur durch das sich Einlassen auf Grenzsituationen, auf Widerstände und Herausforderungen, die dir helfen, zu wachsen und neue Fähigkeiten und andere Sichtweisen zu entwickeln.
Ich glaube an den Satz „Alt ist, wer aufhört zu lernen.“ Was ich in der Rückschau bei mir sehe: Die Momente, in denen ich über mich hinausgewachsen bin und in denen ich mich weiterentwickelt habe, waren die, in denen ich über meine Angstgrenze gesprungen bin und etwas riskiert habe. Sozusagen von der großen, gut beleuchteten und gut ausgeschilderten Straße in eine unbekannte Seitengasse eingebogen bin.
Ich habe darüber in meinen Büchern geschrieben: Ich habe einen Festanstellung als Managerin in einer internationalen Unternehmensberatung aufgegeben, als ich mich selbstständig gemacht habe. Und ja, ich habe viel gearbeitet, kaum Urlaub gemacht und trotzdem im ersten Jahr Verlust gemacht. Es war hart und doch habe ich es keine Minute bereut. Ganz im Gegenteil. Zu lernen, über den Schatten der eigenen Ängste zu springen, kann eine der besten Lektionen im Leben sein.
Dein Lunchpaket
Ich möchte dir etwas mitgeben, eine Art Lunchpaket für deine Reise. Es sind keine Rezepte, sondern eher Anregungen, Impulse, Inspirationen. Ich könnte auch sagen: Tipps, die du nicht zwangsläufig befolgen solltest, sondern über die du nachdenken könntest, um etwas Passendes für dich daraus zu machen. Also, los geht’s:
1. Gerade noch zu bewältigende Herausforderungen definieren
- Such dir „gerade noch zu bewältigende Herausforderungen“ in den Bereichen deines Lebens, in denen du wachsen willst. Das sind solche Herausforderungen, die deine derzeitigen Fähigkeiten ein kleines bisschen übersteigen.
- Wenn du das Gefühl hast, alles „im Griff“ zu haben, mach die nächste Herausforderung ein bisschen schwieriger.
- Wenn du merkst, dass deine Ängste überhandnehmen und du dich gar nicht mehr auf die eigentliche Sache konzentrieren kannst, ist es Zeit, einen Gang zurückzuschalten.
2. Fokussieren
Der Schlüssel zu Wachstum und Weiterentwicklung ist Fokus. Also:
- Reserviere regelmäßige Zeitintervalle in deinem Tagesablauf, in denen du Ablenkungsfaktoren wie dein Smartphone oder dein Notebook beiseite legst.
- Vergiss Multitasking! Tue immer nur eine Sache zur gleichen Zeit. Wenn du das nächste Mal wieder dabei bist, mehrere Dinge gleichzeitig erledigen zu wollen, denk daran, dass Studien eindeutig belegen, dass dieser Weg nicht effektiv ist.
- Arbeite in Zeitblöcken. Niemand kann sich 3 Stunden am Stück konzentrieren. Deshalb ist es so wichtig, die eigene Arbeit in Zeitblöcken von 25 Minuten (Pomodoro Technik) bis 50 Minuten einzuteilen (kann je nach Aufgabe variieren). Nachdem ich seit längerer Zeit mit dieser Technik arbeite, kann ich aus eigener Erfahrung sagen: 60 Minuten sind die Obergrenze für einen Zeitblock mit tiefer Konzentration.
3. Growth Mindset kultivieren
Die Art und Weise, wie du dein Leben betrachtest, verändert grundlegend deinen Umgang mit Herausforderungen. Wenn du dich beispielsweise in einer bestimmten Situation gestresst fühlst – ich meine hier kein Gefühl von Dauerstress, sondern ein temporäres Stressgefühl – dann kannst du das als großes Stoppschild interpretieren und sofort damit aufhören, etwas zu tun, das dich herausfordert. Oder du kannst das temporäre Stressgefühl als natürliches Zeichen deines Körpers sehen, dass du gerade dabei bist, dich auf eine Grenzsituation einzulassen. Und dann atmest du tief ein und aus und lenkst deine gesteigerte Aufmerksamkeit und geschärfte Wahrnehmung auf die anstehende Aufgabe.
All das ist eine Frage deines Mindsets: Growth Mindset versus Fixed Mindset. Mehr dazu hier.
Bis zum letzten Tag
Es ist eine gute Sache, in bestimmten Bereichen deines Lebens, in denen du wachsen willst, immer ein wenig überfordert zu bleiben. Warum? Weil ein Leben mit Airbag sterbenslangweilig ist. Weil du beim Verweilen in der Wohlfühlzone alles Intensive, Waghalsige, Experimentelle und Überraschende aus deinem Leben rauskürzt. Es gibt dann nichts mehr, das positiv grenzwertig, unverschämt mutig oder wild lebenshungrig ist.
Und das wäre ein unendlicher Verlust!
Das Leben ist nicht fertig, sondern es ist eine Reise. Sich selbst herauszufordern bedeutet, stets ein bisschen mehr sich selbst zu finden – und dabei immer weiterzumachen bis zum letzten Tag.
PS: Die Yoga-Armbalance kann ich noch immer nicht ruckelfrei – aber ich bin ja auch noch nicht fertig. 😉
The journey is not over yet.