Zwei Fische schwimmen im Meer und treffen zufällig einen anderen Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist.
„Morgen, Jungs”, begrüßt der eine die beiden, „wie ist denn heute so das Wasser?”
Die beiden heben die Flossen und grüßen stumm zurück. Sie schwimmen eine Weile weiter, dann sagt der eine zum anderen: „Sag mal, was zum Teufel ist Wasser?”
Der Erfahrungsbonus
Wir leben zwar nicht im Wasser, aber in einer uns umfassenden Wirklichkeit, deren Beschaffenheit wir im Alltag ohne darüber nachzudenken einfach voraussetzen. Zumindest in groben Zügen. Aber vielleicht ist die Welt ja auch ganz anders?
Die kleine Geschichte von den Fischen erinnert uns daran, dass andere Erfahrungen auch in andere Sichtweisen von der Welt münden. Deshalb ist der Außenblick so wertvoll, denn er stellt Annahmen in Frage, die sonst übersehen würden.
Wenn aber in einer Organisation überwiegend Menschen zusammenkommen, die dieselbe Erfahrung in derselben Branche haben, die dieselbe Ausbildung haben und dasselbe Erfahrungsspektrum, dann ist nicht viel Innovatives zu erwarten. Selbst wenn die Führungscrew einmal im Jahr zum Offsite-Workshop zusammenkommt, wo alle für einen halben Tag unter Betreuung eines Kreativcoachs so richtig ausgelassen, wild und verrückt sein dürfen.
Menschen – vor allem nachdem sie über Jahre hinweg Erfahrungen in einem bestimmten Feld gesammelt haben – entwickeln eine Art Tunnelblick: Der Blick verengt sich in nur eine Richtung. Die Gefahr dabei liegt in der Unfähigkeit oder auch Unwilligkeit, etwas wahrzunehmen, was außerhalb dessen liegt, was man bereits kennt.
In der Konsequenz fokussiert man auf die gleichen Chancen, auf die alle traditionellen Mitbewerber auch fokussieren und übersieht die gleichen Chancen, die alle diese Wettbewerber auch übersehen. Damit öffnet sich natürlich eine Flanke für neue Wettbewerber, die mit disruptiven Ideen den Markt umkrempeln.
So weit, so nachvollziehbar. Ich rede und schreibe ja immer wieder über diesen Effekt. ABER: Meiner Beobachtung nach wird in der Geschäftswelt Berufserfahrung immer noch extrem hoch bewertet.
Das zeigt sich zum Beispiel beim Recruiting: Es werden vorrangig Bewerber gesucht, die schon in dem Job gearbeitet haben, idealerweise auch schon in derselben Branche. Quereinsteiger? Leute mit einem bunten Lebenslauf? Sind meist die ersten, die aussortiert werden!
Genauso beim Onboarding neuer Mitarbeiter: Sie sollen möglichst schnell lernen, wie der „Hase hier läuft“. Also genau die Praktiken, Denk- und Handlungsmuster möglichst schnell verinnerlichen, die die alten Hasen schon kennen. Sie sollen so arbeiten, „wie wir es hier schon immer gemacht haben“.
Und eine Beförderung erhalten natürlich diejenigen, die schon lange dabei sind und über jede Menge Erfahrung verfügen.
Alles in allem: Zwar redet jeder davon, dass Agilität, Innovation und neues Denken von entscheidender Bedeutung sind, aber in der gelebten Praxis wird das genaue Gegenteil praktiziert. Was nicht zuletzt an den Rahmenbedingungen in Unternehmen liegt …
Walk in stupid every morning – der Mixer zwischen den Ohren
Das Problem dabei: Der Wert der Erfahrung wird im Allgemeinen überschätzt, der Wert der Unerfahrenheit hingegen unterschätzt!
Denn Unerfahrenheit bringt viele Vorteile mit sich. Der wichtigste: der unverstellte frische Blick. Nicht vorbelastet zu sein von tradierten Branchendogmen und Annahmen.
Umgekehrt gilt: Je länger wir bereits etwas tun, desto dringender müssen wir unsere Gewohnheiten und Annahmen hinterfragen, damit wir nicht links und rechts überholt werden. „Deine Annahmen sind die Fenster, durch die du die Welt siehst“, hat es der Schauspieler und Regisseur Alan Alda mal formuliert. „Du musst sie von Zeit zu Zeit abwischen, damit das Licht reinkommt“.
Das ist die Herausforderung: Immer wieder die Fenster, durch die wir die Welt betrachten, abzuwischen, um einen klareren Blick zu bekommen. Und dabei hilft das regelmäßige – am besten tägliche – Reinigungsritual.
Wieden & Kennedy ist eine der größten unabhängigen Werbeagenturen der Welt. Einer der Gründer der Agentur, Dan Wieden, war für die Entwicklung eines der bekanntesten Werbeslogangs der Welt verantwortlich: „Just Do It“ von Nike.
Bei Wieden & Kennedy hat man den Wert des frischen Denkens begriffen und kultiviert es nach Kräften. Eines der ersten Dinge, die Mitarbeiter wie auch Besucher beim Betreten des Londoner Büros sehen, ist eine Schaufensterpuppe, die einen Mixer anstelle eines Kopfs hat. Die Schaufensterpuppe trägt eine Aktentasche mit der Aufschrift „Walk in stupid every morning“.
Die Botschaft repräsentiert etwas, das bei Wieden & Kennedy eine Grundüberzeugung ist: Um frisches Denken zu kultivieren, müssen Menschen ihre Annahmen und vorgefassten Ideen jeden Tag immer wieder aufs Neue hinterfragen.
Die Schaufensterpuppe erinnert alle Mitarbeiter daran, wenn sie morgens zur Tür reinkommen, dass der sichere Weg in den eigenen Niedergang und den der gesamten Organisation darin besteht, davon auszugehen, dass das, was du beim letzten Mal getan hast, beim nächsten Mal wieder genauso funktionieren wird.
Um nicht in diese Falle zu tappen, um sich zu verändern und weiterzuentwickeln, braucht es Unterbrechungen der Denkroutinen. Altgediente Antworten müssen auf den Prüfstand. Obwohl es natürlich nervt und bisweilen schmerzt.
Die Kultivierung des Unvorbelasteten
Die Aufforderung „Walk in stupid every morning“ ist keine Ermutigung zur Dummheit! Es ist nicht dumm zu erkennen, dass wir nicht alle Antworten kennen und dass selbst die erfahrensten Mitarbeiter nicht unbedingt die besten Antworten haben. Frische und gute Ideen kommen oftmals von denjenigen, die unvorbelastet durch Erfahrung auf eine Sache draufschauen oder es aus einer anderen Perspektive betrachten als die sogenannten Experten.
Konkret umgesetzt wird „Walk in stupid every morning“ bei Wieden & Kennedy zum Beispiel beim Staffing von Kundenprojekten: Üblicherweise werden in Agenturen – gleiches gilt übrigens auch für die Zunft der Unternehmensberater – diejenigen Mitarbeiter auf Kundenprojekte gesetzt, die bereits über umfangreiche Erfahrung in der Branche des Kunden verfügen. Wenn beispielsweise ein Auftrag für einen Kunden aus der Kosmetikindustrie ansteht, arbeiten üblicherweise die Mitarbeiter der Agentur mit, die bereits für andere Kunden aus der Kosmetikindustrie gearbeitet haben. Kunden finden das gut, weil sie das Gefühl haben, Branchenexperten auf ihrem Projekt zu haben. Bei Wieden & Kennedy wird diese Idee auf den Kopf gestellt: Es werden absichtlich diejenigen bei der Teamzusammenstellung ausgewählt, die nicht schon über sehr viel Erfahrungen in der Branche verfügen. Das ist mutig. Und wir sind ziemlich sicher, dass das nicht von jedem Kunden verstanden wird …
Wie lässt sich diese Herangehensweise noch umsetzen? Ich hätte da vier weitere Vorschläge:
1. Gebt den jungen Menschen einen Platz am Tisch. Denn die haben den Riesenvorteil, dass sie weniger verlernen müssen als die alten Hasen! Ich habe darüber mal einen Beitrag geschrieben.
2. Stellt neben den Branchenerfahrenen auch ganz bewusst Menschen ein, die Erfahrung in anderen Branchen und Bereichen haben. Echte Quereinsteiger!
3. Sucht gezielt nach Menschen, die nicht nur stromlinienförmige Lebensläufe haben, sondern Erfahrungen in unterschiedlichen Bereichen gesammelt haben. Menschen mit einem bunten Lebenslauf!
4. Stört das „übliche Denken“, institutionalisiert den Anspruch der „täglichen Fensterreinigung“, um das Bild von Alan Alda nochmals aufzugreifen und macht diesen Anspruch prägnant sichtbar.
Was ist in deinem Unternehmen das Äquivalent zur Schaufensterpuppe, auf deren Aktentasche die Aufforderung „Walk in stupid every morning“ zu lesen ist?