Vielleicht hast du das auch schon mal erlebt: Im Meeting wird eine wirklich schlechte Idee präsentiert und zur Abstimmung gestellt. Insgeheim denkt jeder: „Oh weia! Da sollen wir besser die Finger davon lassen.“
Aber niemand möchte derjenige sein, der das laut ausspricht. Es ist so wie bei „Des Kaisers neue Kleider“. Man wirft einen vorsichtigen Blick nach rechts und nach links und merkt, dass die anderen still sind. Und langsam beginnen die Anwesenden, an ihrer eigenen Einschätzung zu zweifeln: „Mhh, vielleicht sehe ich das ja zu kritisch. Allen anderen scheint die Idee ja zu gefallen.“
Gruppendenken nimmt Fahrt auf…
Die schlechte Idee wird durchgewunken und kommt ins Rollen. Nachdem die Entscheidung gefallen ist, steigt der Druck auf jeden Einzelnen, der Gruppenmeinung zuzustimmen. Und irgendwann kommt dann der Punkt, wo es kein Zurück mehr gibt …
Reine Fiktion?
So etwas gibt es doch im wahren Leben nicht?
Oh doch!
Im Laufe der Zeit nimmt in (fast) allen Unternehmen der Trend zum Gruppendenken zu.
Gruppendenken heißt: Die Menschen im Unternehmen werden einander immer ähnlicher. Sie denken und handeln immer ähnlicher. Abweichler werden seltener und haben es immer schwerer. Konformismus macht sich breit.
Was nicht passt, wird passend gemacht!
Dieser Prozess geschieht unabsichtlich, unbemerkt und schleichend. Ich sehe, höre und erlebe das immer wieder: Über die Jahre hinweg ist ein Unternehmen erfolgreich geworden, die Mitarbeiter entwickeln eine starke Verbundenheit mit der Organisation und teilen gemeinsame Werte und Ziele. Diese Werte und Ziele werden verteidigt und in vielen Gesprächen und Meetings verbreitet. Die Konsequenz: Auf dem Arbeitsmarkt werden irgendwann nur noch die Menschen angesprochen und ausgewählt, die so ticken wie das Gros der vorhandenen Mitarbeiter. Und wer noch nicht ganz passt, der wird eben passend gemacht.
Der Effekt: Die Vielfalt des Denkens wird langsam aber stetig immer weiter zurückgedrängt. Die vorherrschende Unternehmenskultur wirkt wie ein zu enges Korsett, das das so wichtige unabhängige und konträre Denken abschnürt. Es entsteht eine geistige Monokultur. Gruppendenken eben.
Rebels at Work
Nur: Wer in komplexen Situationen – also heutzutage praktisch immer – gute Entscheidungen treffen will, der muss abweichende Meinungen nicht nur dulden, sondern er braucht sie dringend! Er muss Andersdenker, Mitarbeiter mit schrägen Ideen, nicht naheliegenden Meinungen und unkonventionellen Vorschlägen geradezu einladen. Diese Rebels at Work sind extrem wichtig – nicht weil sie sich tendenziell immer durchsetzen, sondern weil sie eingefahrene Routinen stören und das Denken stimulieren und in neue Bahnen lenken. Eine Organisation, die auf solche Impulse verzichtet, droht ihre eigene Zukunft schlichtweg zu verspielen.
Spätestens wenn sich das Marktumfeld stark ändert, ist genau das Gegenteil von Gruppendenken gefragt: Abweichende Meinungen liefern die Ideen zu neuen, anderen Lösungen. Deswegen sind die Non-Konformisten so wertvoll und sollten unter Artenschutz gestellt werden!
Der Wert des Dissens
Genau das passiert aber leider in den meisten Unternehmen nicht. Im Gegenteil: Wirtschaftspsychologische Studien zeigen, dass Führungskräfte sich ausgerechnet in Zeiten starker Veränderungen oder Krisen umso mehr auf den Rat von Kollegen stützen, die genau ihren Standpunkt teilen. Sie ziehen gerade dann, wenn es darauf ankommt, den bequemen Konsens dem unbequemen Dissens vor.
Darum ist das eines meiner wichtigsten Anliegen: Wer in überlebenswichtigen Fragen im Unternehmen gute Entscheidungen treffen will, muss Gruppendenken bekämpfen! Stattdessen muss die Vielfalt des Denkens aktiviert werden, die in der Organisation schlummert.
Böse Wetter!
Also: Wie geht das? Wir kannst du die Vielfalt des Denkens freilegen? Und zwar frühzeitig?
Indem du dich um Kanarienvögel kümmerst!
Die Idee stammt von Google. Dort führte der ehemalige Personalchef Laszlo Bock für den HR-Bereich sogenannte Kanarienvogelgruppen ein. Die Kanarienvögel sind Mitarbeiter aus ganz unterschiedlichen Hierarchieebenen und Unternehmensbereichen. Was sie auszeichnet, ist der Ruf, über strategische Weitsicht zu verfügen und auch kein Problem damit zu haben, ihre Haltung deutlich und auch gegen vorherrschende Überzeugungen zu äußern. Also durchaus auch anzuecken.
Die Metapher stammt aus dem Bergbau: Die Kumpels nahmen sich früher einen Kanarienvogel in einem tragbaren Käfig mit unter Tage. Solange der zwitscherte, war alles in Ordnung. Aber sobald der Kanarienvogel verstummte, drohte der Einbruch von Grubengas und damit die Gefahr zu ersticken oder vergiftet zu werden. Dann wurde es höchste Zeit, die Grube zu verlassen.
Wie sieht deine Kanarienvogelgruppe aus?
Diese Kanarienvogelgruppen bei Google sind also Fokusgruppe und Frühwarnsystem in einem. Sie bieten den Andersdenkern den Raum, eine bedeutende Funktion für das Unternehmen zu erfüllen und sorgen für das kritische Hinterfragen im Vorfeld von wichtigen Entscheidungen. Es geht also nicht darum, die Kanarienvögel bei jeder klitzekleinen Entscheidung um ihren Input zu bitten – aber eben bei solchen, die weitreichende Folgen haben.
Klasse Idee!
Kanarienvogelgruppen sind nicht das Allheilmittel gegen Silodenken und Konformität. Denn dazu braucht es mehr, auch andere Strukturen und andere Einstellungs- und Beförderungsverfahren. Die Idee von Google kann nur ein Baustein unter vielen sein. Aber es ist ein Baustein, über den du dringend nachdenken solltest: Wie könnte die Variante von Kanarienvogelgruppen in deinem Unternehmen aussehen?