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Ella Fitzgerald improvisiert

Ella Fitzgerald: Text vergessen, Grammy gewonnen

So sehr wir den Sommer lieben, aber im Herbst gibt es eine Sache, die können wir kaum erwarten … das Enjoy Jazz Festival in Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen ab Anfang Oktober.

Ella Fitzgerald – Ein einschneidender Tag in ihrer Karriere

Dort waren schon Hochkaräter wie Herbie Hancock zu erleben. Nur eine war nie dort, und wird es leider nie sein, weil sie schon 1996 verstorben ist: Ella Fitzgerald, die wohl bekannteste und einflussreichste Frauenstimme des Jazz.

Es gibt einen bedeutungsvollen Moment in ihrer Karriere, der heute mehr denn je aufschlussreich für uns alle ist: Es war 1960, Ella gab ein Konzert in Berlin, das für ein Live-Album aufgenommen wurde. Als sie den berühmten Brecht-Klassiker „Mack the Knife“ aus der Dreigroschenoper sang, wusste sie in der sechsten von acht Strophen plötzlich nicht mehr weiter. Der Text war weg. Sie war blank. Und das live und vor Publikum, mitten in der Aufnahme!

Was hättest du gemacht?

Was Ella Fitzgerald NICHT sagte: „Oh, mein Gott! Wie peinlich! Ich habe den Text vergessen. Bitte löscht das! Tut mir leid! Das darf nicht auf die Aufnahme! Wir fangen nochmal von vorne an! Mein Fehler! Sorry!“

Nein, schließlich war sie Jazzmusikerin. Und das heißt in so einem Fall:

Ella Fitzgerald improvisiert! Und wie!

Sie ging nahtlos und mühelos dazu über, einfach zu singen, was ihr spontan einfiel. Sie sang, dass ihr gerade der Text entfallen sei, dass sie aber gerade denselben Song sang, den schon Bobby Darin und Louis Armstrong gesungen hatten und was für tolle Platten die aus diesem Song gemacht hatten. Und dass nun Ella hier sei mit ihrer Band, und dass die nun zusammen ebenfalls eine Platte aus demselben alten Song machen. Sie sang nicht einfach nur, sie gab alles, sie spielte ein Solo mit ihrer Stimme, sprang die Oktaven hoch und runter, trällerte, rief, schnurrte, krähte, kiekste, sang rauchig, samtweich, kantig, fröhlich, höflich, kindlich, frech.

Der Song war von Anfang an grandios, aber der mit Abstand beste Part war der letzte Teil ab dem Moment, als sie den Text vergessen hatte und improvisiert.

Das Publikum war völlig aus dem Häuschen, es riss die Leute von den Stühlen für minutenlange Standing Ovations. Und auch die Hörer der Platte „Ella in Berlin“ sind bis heute begeistert und können sich kaum satthören an dieser fantastischen Interpretation eines wunderbaren Songs.

Für diese Meisterleistung erhielt Ella Fitzgerald gleich zwei Grammys, sowohl für das Album als auch für den Song.

Text vergessen – Grammy gewonnen!

Lerne wieder zu improvisieren!

Und was bedeutet das jetzt für uns alle? – Improvisieren hat hierzulande ein schlechtes Image. „Improvisiert“ klingt wie „nicht vorbereitet“, „gleichgültig“, „aus der Hüfte geschossen“, „dilettantisch“, „unprofessionell“. Bei der Arbeit gilt ein Improvisateur als ein Durchwurschtler, ein Chaot, jemand, dem es an Strategie und Planung fehlt.

Gerade wir Deutschen sind ja dressiert, alles sauber zu planen: Ein Leben ohne Terminkalender und strategische Planung gilt zwar als möglich, aber sinnlos. Wir sind Planungsfetischisten, weil wir Überraschungen hassen. – Aber diese Überraschungen gibt es trotzdem.

Natürlich sind Planen, Szenarien durchspielen und rechtzeitiges Nachdenken kein Fehler. Nur sollten wir nicht den Plan mit der Realität verwechseln!

Das lateinische Adjektiv „planus“ bedeutet „flach“, „eben“, also etwas Überschaubares ohne Überraschungen. Ist so die Welt? – Natürlich nicht!

Uns sollte klar sein, dass die Bedingungen gerade in der Wirtschaft immer unberechenbarer, unplanbarer werden. Und das bedeutet: Wir brauchen viel mehr Improvisationstalent! Denn wenn wir die Überraschungen nicht „wegplanieren“ können, dann können wir sie so wenigstens geschickt nutzen: Mittels Jazz im Kopf statt vorgefertigter Partitur.

Im Fabrikzeitalter war kein Platz für Improvisation. Aber heute brauchen wir diese menschliche Grundfähigkeit immer mehr. Menschen sind von Natur aus Improvisationstalente, die flexible, individuelle Reaktion ist eine der größten Stärken des Homo Sapiens – wenn man ihn lässt.

Wir haben die Wahl, ob wir in unserer täglichen Arbeit lieber versuchen zu funktionieren wie geplant, oder ob wir unsere Kreativität freisetzen – und damit das Gegenteil eines Roboters werden: Nämlich ein Mensch wie Ella in Berlin.